Wahrhaft autoritäre Personen sind größtenteils aus unserem Alltag verschwunden – aber mit ihnen auch ihre Macht? Eine Reflexion und Spurensuche.
„Das Leben kann dir viel verzeihen, aber nicht, dass du es nicht geliebt hast!“ Ein Satz, der in jedem Tischkalender, jeder Abi-Rede und jedem Graffiti zu finden sein könnte. Aber entgegen dem schelmisch-grinsenden Kopfnicken, das der Satz bei vielen auszulösen vermag, hat er nichts, aber auch gar nichts Rebellisches in unserer Zeit. Denn ganz im Gegensatz zu den tief sitzenden Schamgefühlen unserer Großeltern, fühlt sich heute ein 25-Jähriger eben dann schuldig, wenn er nicht „genug“ gelebt hat, sprich: gereist, genossen, ausprobiert, irgendwas Verrücktes aufgebaut und alles wieder hingeworfen und sich in die größten Abenteuer gestürzt hat.
Und diese Glücksimperative werden eben nicht nur von unseren Altersgenossen an uns gerichtet. Beispielhaft könnte mein obiger Kalenderspruch sowohl aus dem Mund eines FDP-Politikers kommen, der „mehr Jugendlichkeit“ wagen möchte, genauso aus dem deines Psychoanalytikers, der sich bei zu stark ausgeprägter Monogamie Gedanken zu überhöhten Abwehrmechanismen aufgrund einer Mutterfixierung macht, aus dem deines „modernen“ Chefs, der dich damit dazu bringen will noch ein wenig länger am Abend zu bleiben und mit den anderen beim Kickern die Corporate-Identity zu stärken, oder eben dein Vater könnte dir Ähnliches zuflüstern, weil er Sorge hat, sein volljähriges Kind könnte ein allzu bürgerlicher Spießer und Langzeitsingle werden.
Wo sind all die Mächtigen hin? Wann verlor De Sade seinen Sinn?
Unsere Generation wird also in allen Lebensbereichen mit dem gleichen Narrativ konfrontiert. Aber bei so viel Glück und „Glückwünschen“ – wo ist dann all die Macht geblieben, die doch vorher die Gesellschaft in den steifen Fesseln der Tradition hielt? Kurze Rückblende. Womit wird Macht denn klassischerweise assoziiert? Durchsetzung des eigenen Willens, egal mit welchen Mitteln. Überwachen und Strafen. Ab in die stille Ecke! Männer in Anzügen mit tiefen und harten Stimmen. Diese alte Idee von Macht soll frei nach dem Bild, das dieser in der allgemeinen Öffentlichkeit hervorruft, das De-Sade-Prinzip genannt werden.
Diese Macht sah den Menschen als modellierbares Projekt an, das zum zivilisierten, rationalen Vernunftwesen gezüchtigt werden muss, damit er dann seinen Platz in der Gesellschaft einzunehmen weiß. Egal ob treuer Staatsbürger, gewissenhafter Industriearbeiter oder resozialisierter Verbrecher – der einzelne sollte in erster Linie „funktionieren“. Dazu wurde der Einzelne in konkret sichtbaren Herrschaftssystemen mit klaren Imperativen verobjektiviert. Die Mechanismen der Macht waren unnachgiebig und über Sanktionen bei jedem Übertritt spürbar. Dieses De-Sade-Prinzip äußerte sich beispielsweise in Institutionen wie dem Patriarchat, den industrialisierten Großkonzernen oder in den alten, monotheistischen Religionen, in denen ein Hochgott durch seine absolute Allmächtigkeit den Menschen in Knechtschaft zu halten vermag.
Was der französische Sozialphilosoph Michel Foucault als Biopolitik definierte, bedeutet in diesem Zusammenhang die überwachte Kontrolle der körperlichen Biomasse eines jeden. Entscheidend ist die punktgenaue Einhaltung von Zeitplänen, Arbeitsvorgaben und die Unterdrückung der körperlichen Bedürfnisse beziehungsweise die Verlagerung dieser in klar abgesteckte Räume (wie das elterliche Schlafzimmer). Disziplin ist der höchste Wert dieser Logik. In unserer heutigen Gesellschaft finden wir dieses De-Sade-Prinzip beispielsweise im Umgang mit Kindern, in den oft und zurecht kritisierten veralteten Schulformen, die sich unwissentlich immer noch an den preußischen Militärakademien orientieren und die Schüler zu uninteressanten Technokraten erziehen zu versuchen. Aber auch im Umgang mit Arbeitslosen, die in Jobcentern und Arbeitsagenturen unter dem Generalverdacht der Leistungsverweigerung immer dem Damoklesschwert von Kürzungen und Sanktionen ausgesetzt sind, oder natürlich im prototypischen Fall des Strafgefangenen und dem damit einhergehenden wortwörtlichen Freiheitsentzug in „klassischen“ Gefängnissen.
Das Casanova-Prinzip
Seit einiger Zeit versuchen moderne Sozialwissenschaftler (Žižek, Simanowski, Zuboff, Byung-Chul Han) einer gespenstischen Vorahnung zu folgen, dass schrittweise diese Machtform abgelöst wird von einem neuen Prinzip, dem mit den vorherigen Erklärungsmechanismen nicht beizukommen ist. Das Neue kommt typischerweise am Anfang mit einem namenlosen Zauber in die Welt und muss seinen geeigneten Begriff erst noch finden. Die verführerische Machttechnik des Giacomo Casanovas soll hier also versuchsweise metaphorisch für die dämonischen Schattenseiten des bereits am Beginn geschilderten modernen Narratives der machtfreien Lebenslust dienen.
Casanovas Macht war nicht laut, fordernd, strotzend und einschüchternd, sondern subtil, fördernd, bescheiden und ästhetisch – und wenn es sein musste, konnte sie auch mit Schüchternheit bis hin zur Unsicherheit kokettieren. Dieses Casanova-Prinzip zielt auf Gefühle und Herzen ab, und bekommt die Körper unaufgefordert als Beigabe dazu. Die gelungene Verführung lässt das Gegenüber im Glauben zurück, dass es sich freien Herzens entschieden hat oder besser sogar selbst in der überlegenen Position des Verführers gewesen ist. Niemals würde der Casanova unserer Vorstellungswelt Gewalt einsetzen oder Vorschriften machen. Dieser Casanova schwingt sich auch nicht auf, um herabzublicken, sondern macht sich gleich, um einer von uns zu sein. Jede seiner Handlungen ist begleitet vom reinsten guten Willen und alle negativen Nebenfolgen (zerbrochene Herzen und Ehen, schwangere Nonnen, geklaute Benutzerdaten usw.) sind niemals intendiert, sondern marginale Schönheitsfehler.
Die Mächtigen im Sattel des Casanova-Prinzips gehen sogar soweit, sich selbst als Opfer darzustellen. Ist ihnen die Aufgabe doch ein wenig über den Kopf hinausgewachsen, sie selbst sind eigentlich die Gehetzten in einer ganz gemeinen Welt und zudem sind sie ja auch nur Menschen mit Gefühlen und Ängsten. Das Bild eines jungen „Entrepreneurs“ sollte nun vor dem geistigen Auge entstehen. Er ist Leiter eines jungen, hippen „Start-Ups“, trägt bevorzugt Hoodies und Flip-Flops und will eine möglichst flache Firmenhierarchie etablieren. In seiner Lebenswelt fühlt sich jeder als freies Subjekt, das über die lockere Atmosphäre zwischen Freibier, Tischkicker und firmeneigenem Fitnessstudio im ständigen Self-Development das eigene authentische Ich sucht. Und weil also jeder mit dem Chef befreundet ist und sich irgendwie moralisch für das Unternehmenswachstum verantwortlich fühlt, sind alle Angestellten (besser „employees“) jederzeit zu unbezahlten Überstunden bereit, ertragen mit freundlich-lockerer Miene mickrige Löhne und inadäquate Arbeitsaufträge, wenn am Ende nur ein anerkennendes Schulterklopfen, eine Firmenparty und sagenhafte zwanzig verschiedene Müslisorten in den Chill-Out-Bereichen stehen.
The devil wears no suit and tie
Auch wenn die Krawatte bei diesen neuen Selbstermächtigten fehlt, so sind dennoch nicht die materiellen Abhängigkeitsverhältnisse verschwunden. Und wenn befristete Miets- wie Arbeitsverträge als wunderbare Chance der ständig währenden kreativen Arbeit an der eigenen Biografie verkauft werden, hätte Casanova wohl schon damals sagen müssen: „Wer zweimal mit der gleichen pennt, gehört schon zum Establishment“. Denn gerade dort wo angeblich Selbstbestimmung, Ideologiefreiheit und pure Anti-Autorität herrscht, sollte eigentlich die größte Skepsis herrschen.
In unserer von der digitalen Kulturindustrie durchzogenen Moderne werden keine bösen Leidenschaften, allzu menschliche Fehler und Bedürftigkeit von der Macht unterdrückt, sondern Bedürfnisse frei nach dem Casanova-Prinzip erzeugt und genutzt. Diese neue Macht des Kapitalismus schafft sich vollends jene Konsumenten, die sie braucht. Die Disziplinarmacht wird zum Glücksversprechen, der Glaube an die Legitimität einer äußeren Macht zum Glauben an die freistehende, selbstbestimmte Identität, aus Zwang wird Verführung. Die Institutionen Gefängnis, Schule, Fabrik und Irrenanstalt, stehen freiem Webspace, Shoppingmalls und Innovationsräumen in Unternehmen gegenüber. Wo vorher strenge Vertragsverhältnisse standen, blühen nun Freundschaften, in denen man den anderen alles fragen darf und um alles bitten kann. Wo vorher Eingriffe der Staatsmacht Verhalten regulierten, lassen Gamification und Nudging die Illusion von Freiheit. Die strengen Religionsinstitutionen mit ihren knallharten Hierarchien, werden abgelöst von spirituellen, eventbasierten Patchwork-Glaubensspektakeln, die freie Entfaltung anpreisen, aber ganz realen Profit für sich fordern.
Probleme und Auswege
Entgegen allem Anschein ist das Casanova-Prinzip eben nicht humaner, gerechter und irgendwie durchlässiger als die Macht, die auf dem De-Sade-Prinzip beruht. Wenn nämlich Glücksforschung und Motivationspsychologie eingesetzt werden, um Mitarbeiter wie auch Kunden in ihrem Verhalten zu steuern, dann ist das nicht unbedingt ein Fortschritt in moralischer Hinsicht. Beispielsweise wenn Gehälter so gezahlt werden, dass die jungen, häufig überaus qualifizierten Mitarbeiter nur gerade so die Stelle überhaupt annehmen, liegt das nicht zuletzt in den rationalen Gesetzen dieser Motivationspsychologie begründet. Denn so wird der Mitarbeiter die eigene, völlig unterbezahlte Arbeit nicht mehr mit äußeren Anreizen verbinden, sondern muss sich selbst Erklärungen der intrinsischen Motivation schaffen, warum er überhaupt diese Arbeit macht. Wenn er sich dann aus dieser „kognitiven Dissonanz“ hinausstiehlt, indem er sich selbst erklärt, die Arbeit mache ja eigentlich Spaß, er wollte schon immer mal sowas machen und er trage auch viel Verantwortung, geht diese Wissenschaft davon aus, dass seine Leistung vermutlich durch die niedrige Bezahlung sogar gesteigert wurde. Denn die Motivationspsychologen haben herausgefunden, dass man bei kreativen und geistig anspruchsvollen Aufgaben nur wenig über extrinsische Reize erreichen kann, sondern nur über eine erhöhte innere Motivation. Uns zu überreden, dass wir es also selbst genauso wollten, ist die größte Kunst einer jeden Verführung. Wenn entsprechend Werbeanzeigen mit der emotionalen Rezeption der eigenen Timeline synchronisiert werden, so sollte man nicht vorschnell an das ewige Versprechen des Kapitalismus glauben, er wüsste doch am besten was gut für uns ist.
Die Macht dieses neuen Prinzips reicht tiefer und ist umfassender als jede kapitalistische Fantasie vergangener Tage. Wenn Marx ganz neidlos die unglaublichen Leistungen des Industriekapitalismus anerkennen musste, ist auch hier die atemberaubende Generierung von Leistungsbereitschaft, Marktkapital und technische Innovation, die in einer sich immer wieder selbst übersteigenden Beschleunigung einander verstärken, werturteilsfrei zunächst festzustellen. Doch wird das Casanova-Prinzip zum Problem, wenn sich Widerstand regt, aber keine Begriffe zur Hand sind zu beschreiben, wogegen man eigentlich kämpft. Die neue Macht bietet nämlich keinerlei Reibungsflächen mehr. Sie ist sogar so glatt, dass man sich selbst darin spiegelt. Die größte Gefahr ist dann, die eigene Kritik nicht anzupassen, sondern sich mit alten Waffen im Spiegelkabinett mit Schattenboxen lächerlich zu machen. Ein gerechtfertigter Feminismus, der gerechtfertigte Widerstand gegen Ausbeutung und Wohnungsnot oder die gerechtfertigte Kritik an veralteten Erziehungsstilen, dürfen die Machthaber nicht mehr als das in sich böse und egoistisch unterdrückende Gegenüber angehen, denn dann läuft man offene Türen ein und kämpft im Zweifel Schulter an Schulter mit eben jenen Machthabern gegen Windmühlen. Die Mühle der Macht dreht sich heute anders, man sollte sagen sie hat einen neuen „Spin“. Der erste Schritt einer ernst zu nehmenden Opposition müsste die Forderung der offenen Unterdrückung sein. „Be my master“ muss notwendig der Forderung „Let me free“ vorausgehen.
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