„Stille Nacht, heilige Nacht“ wird zu Weihnachten auf der ganzen Welt gesungen. So romantisch wie die Gefühle, die dabei aufkommen, ist die Entstehungsgeschichte aber bei weitem nicht. Ein einfacher Pfarrer und ein Lehrer dichteten und komponierten das Lied in einer wirtschaftlich ausweglosen Situation – und spendeten ihren Hörern damit Trost. Das kann auch in diesem Jahr tragen, meint unser Autor Benedikt Bögle.
Kein Weihnachten ohne „Stille Nacht, Heilige Nacht“. Kein Weihnachtsmarkt ohne das Lied, keine Feier unter dem Christbaum, keine Gottesdienste an Weihnachten. Das ist eigentlich erstaunlich. Musik und Text stammen nicht von den begabtesten Dichtern und Komponisten der damaligen Zeit. Und trotzdem ist die Melodie des Weihnachtsliedes die vielleicht bekannteste Musik der ganzen Welt. In über 300 Sprachen und Dialekten ist das Lied bereits übersetzt, die UNESCO erklärte es zum „immateriellen Kulturerbe“. Viele verbinden romantische Stimmung mit diesem Lied: Besinnlichkeit, Ruhe, Glück. Dabei entstand das Lied in einer Zeit, die sicherlich alles andere als romantisch und besinnlich war.
Ein politischer Konflikt
1818 wurde „Stille Nacht“ zum ersten Mal in Oberndorf, einem Dorf bei Salzburg, gesungen. Die Bevölkerung des kleinen Dorfes hatte in diesem Jahr mit großen Problemen zu kämpfen. Oberndorf gehörte eigentlich zur Stadt „Laufen“. Diese unterstand dem Erzbischof von Salzburg, der Fürst über ein eigenes Territorium war. Nachdem die Napoleonischen Kriege Unordnung in Europa gestiftet hatten, wurden die Landesgrenzen auf dem Wiener Kongress neu geordnet. Das Ergebnis: Das eigenständige Herrschaftsgebiet des Salzburger Erzbischofs zerfiel. Ein großer Teil wurde dem österreichischen Kaiser zugetragen, ein kleinerer Teil kam Bayern zu. Neue Grenze wurde der Fluss Salzach.
Wirtschaftlicher Ruin
Die Salzach trennte genau die beiden Orte Laufen und Oberndorf. Die Stadt wurde getrennt. Das führte zu einem großen wirtschaftlichen Problem. In Oberndorf lebten vor allem Schiffer, die auf der Salzach vornehmlich Salz exportierten. Über Jahrhunderte hatten sie auf diesem Fluss das Monopol. Ihre Zukunft wurde dadurch gesichert. Plötzlich jedoch wurde diese Sicherheit durch die neue Grenzziehung beendet. Die Menschen in Oberndorf standen vor dem Ruin. Und in genau diese Situation hinein wurde „Stille Nacht“ geschrieben.
An einem Tag komponiert
Der Text stammt vom Dorfpfarrer aus Oberndorf, der das Gedicht vermutlich schon zwei Jahre zuvor geschrieben hatte. Joseph Mohr war ein einfacher Pfarrer. Er unterstand als Koadjutor, als „Beihelfer“ also, dem eigentlichen Pfarrer von Oberndorf. Das Verhältnis der beiden Priester war wohl alles andere als leicht – so beschwerte sich der Chef bei seinem Bischof über Mohr. Ihm fehle jeder Fleiß. Am 24. Dezember 1818 übergab Joseph Mohr sein fertiges Gedicht an den Lehrer des Dorfes, Franz Gruber. Er komponierte daraufhin an diesem einen Tag die Melodie zu „Stille Nacht“.
Geschichte des Liedes unklar
Was der genaue Auslöser zu diesem Lied war, ist heute unklar. Die Geschichte der Entstehung wurde bereits mehrfach verfilmt, unter anderem 1997 in „Das ewige Lied“ mit Tobias Moretti in der Hauptrolle Pfarrer Mohrs. Diese Lieder versuchen, die historische Lücke zu füllen und wollen erklären, warum gerade in diesem Jahr das längst fertige Lied vertont wurde – und warum die Idee dazu gerade am Heiligen Abend entstand und Gruber nicht schon zuvor mit der Komposition begonnen hatte. So wird vermutet, das Lied sollte die Menschen in ihrer schwierigen Situation trösten. Damit wäre „Stille Nacht“ wohl so etwas wie ein Weihnachtsgeschenk für die Schiffer in Oberndorf in ihrer schwierigen wirtschaftlichen Situation gewesen.
Ergebnis eines Streits
Andere vermuten, Pfarrer Mohr habe sich mit seinem Vorgesetzen, Pfarrer Nöstler, über deutsche Lieder in der Messe gestritten. Lange wurde in katholischen Gottesdiensten – wenn überhaupt – nur auf Latein gesungen. Langsam setzten sich dann auch Lieder in der jeweiligen Volkssprache durch. Der Priester betete die Texte der Messe weiterhin auf Latein – also etwa das „Gloria“ oder das „Sanctus“. Dazu aber sangen die Gläubigen deutsche Kirchenlieder. Diese Entwicklung war nun aber nicht umstritten: Die deutschen Kirchenlieder hatten auch viele Gegner.
Und genauso soll nun auch die Situation in Oberndorf gewesen sein: Pfarrer Nöstler war gegen Deutsch in der Kirche, Mohr aber ein eifriger Verfechter der neuen Lieder. Der Vorgesetzte verbot seinem untergebenen Priester, diese Lieder singen zu lassen. Die Antwort auf diesen Streit nun soll das Lied „Stille Nacht“, natürlich auf Deutsch, gewesen sein. Wieder andere glauben einfach, die Orgel in Oberndorf sei kaputt gewesen. Pfarrer Mohr und der Lehrer Gruber, der gleichzeitig Organist war, sollen dann eine kurzfristige Lösung gesucht haben, um in der Christmette trotzdem etwas singen zu können. Das Ergebnis: „Stille Nacht“, begleitet auf der Gitarre.
Trost in der Not – auch heuer
Wie das Lied genau entstand, kann also nicht genau gesagt werden. Jedenfalls aber entstand es in Zeiten, die für die Menschen sehr schwierig waren. Ist es nicht in diesem Jahr ganz ähnlich? Das zweite Weihnachtsfest unter den Bedingungen der Pandemie fällt vielen nicht leicht. Einigen wurde die wirtschaftliche Grundlage entzogen, andere haben geliebte Menschen verloren oder leiden unter den Langzeitfolgen einer Erkrankung. Vielleicht kann gerade jetzt „Stille Nacht“ ein Trost sein, wie es das auch für seine ersten Hörer sein sollte.
Klar ist, dass das Lied einen wohl einzigartigen Siegeszug hinter sich hat. Ausgehend von einem kleinen österreichischen Dorf hat es die ganze Welt erobert. Vielleicht liegt das daran, dass es den Menschen Trost spendet, so wie es das bereits 1818 getan hat. Die Sätze des Liedes müssen während der schwierigen und unabsehbaren Situation der Menschen in Oberndorf eine starke Wirkung gehabt haben. In einen Moment hinein, in dem die Gläubigen nicht wussten, wie es mit ihnen weitergehen soll, schreibt Mohr den Satz: „Jesus der Retter ist da!“ Das galt vor 200 Jahren, es galt aber auch in diesem Corona-Winter.
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