Seit 2017 gelten die vom „Islamischen Staat“ besetzten Gebiete in Irak als befreit. Bis heute ist jedoch kein Frieden in das Land eingekehrt. Was bleibt nach der Terrorgruppe? Zur aktuellen Lage von unserem Nahost-Experten.

Hintergrund
Am 09. Dezember 2017 verkündeten die irakischen Streitkräfte ihren endgültigen Sieg über den Ableger des transnationalen Terrornetzwerks ISIS. Seit dieser Zeit brachen neue, teils von außen beeinflusste Konflikte um die Vorherrschaft in Irak aus. Die Parlamentswahlen im Mai 2018 sowie die Inauguration des neuen Regierungschefs Adil Abdul Mahdi im Oktober desselben Jahres haben die Situation bislang nicht entschärfen können.
Innenpolitik
Iraks politische Landschaft wird seit Jahren von schweren Korruptionsvorwürfen erschüttert. Im August 2015 angekündigte soziale Reformen wurden aufgrund (mutmaßlich) gezielter Behinderungen des Beamtenapparats und durch die Bedrohung der Terrorgruppe ISIS kaum durchgesetzt. Seit Oktober 2018 ist mit Adil Abdul Mahdi ein schiitischer Regierungschef im Amt. Seine politische Vergangenheit in der, für lange Zeit in Iran ansässigen, SIIC–Partei, brachte ihm Misstrauen von Seiten sunnitischer Gruppen ein. Jedoch sprechen Mahdis jüngste Beschlüsse, wie die gesetzlich erzwungene Integration der im Land befindlichen Milizen (inklusive der Schiiten) in die regulären Streitkräfte, für eine ausgewogene Landespolitik und eine Demonstration gegen den wachsenden Einfluss der Nachbarstaaten.
Der sogenannte „Islamische Staat“ gilt seit 2017 als territorial besiegt. Jedoch ist bekannt, dass sich der harte Kern der Organisation in entlegene Regionen der irakischen Wüste zurückgezogen hat. Die Gefahr bleibt, dass die kampferprobten Dschihadisten und ehemaligen Geheimdienstkader der Baath–Partei das staatlich bislang gescheiterte Irak erneut als Sprungbrett nutzen könnten. Erst im Juli griffen IS–Kämpfer einen Kontrollposten im irakischen Kurdistan an.
Externe Interessierte
Seit 2014 ist die Präsenz von Ausbildern und Spezialeinsatzkräften des Iran zur Unterstützung der schiitischen Milizen in Irak bekannt. Die irakische Bevölkerung setzt sich mehrheitlich aus Schiiten zusammen (ca. 60 %), welche bereits unter dem Terror von Al-Qaida in Irak 2006 als bevorzugtes Angriffsziel für die „Säuberungsaktionen“ der Dschihadisten galten. Zudem probten Schiiten den Aufstand gegen das sunnitisch dominierte, von den USA gebildete Übergangsregime nach Saddam Hussein. Nebst der strategischen Partnerschaft gilt die religiöse Nähe zwischen der iranischen Zwölferschia und den irakischen Schiiten als Anreiz für ihre Zusammenarbeit.
Bis 2017 sollen auch kurdische Milizen unter dem Einfluss Teherans gestanden haben, jedoch sprechen erst im Juli 2019 ausgebrochene Kampfhandlungen zwischen den iranischen Revolutionsgarden und kurdischen Kämpfern an der irakischen Grenze für die (zumindest teilweise) Auflösung der Partnerschaft. Zurzeit fliegt auch die Türkei Luftangriffe auf PKK-Stellungen in Nordirak. Im Zuge des wachsenden iranischen Einflusses in Irak unternimmt Israel den Versuch, selbigen durch militärische Luftschläge zu unterbinden. Konkret wurde in Tel Aviv die Befürchtung geäußert, eine zweite Hizbollah – die vom Iran unterstützte schiitische Miliz in Libanon – könne von Irak aus Raketen auf Israel abfeuern. In den vergangenen Wochen befahl das israelische Oberkommando mehrere Angriffe auf mutmaßliche Stützpunkte und Ausbildungslager der iranischen Spezialeinheiten in Irak. Ein zuletzt mehrfach bekannt gewordenes Angriffsziel ist die Provinz Salah ad-Din, nördlich der Hauptstadt Bagdad.
Bereits im Frühjahr 2018 kündigten Staaten des Golfkooperationsrats (GKR), allen voran die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Entwicklungshilfen in Milliardenhöhe für Irak an. Die politische Lage im Land erschwerte jedoch bislang die praktische Umsetzung des Wiederaufbaus. Im Mai 2019 schloss Präsident Mahdi mit Saudi Arabien mehr als ein Dutzend Verträge im Bereich natürliche Ressourcen, Banking und politische Kooperation ab. Regionale Medien begrüßten diese Abkommen als Neutralitätsbeweis Iraks und ein zeitgleiches Wirken der GKR–Staaten gegen Irans Einfluss.
IS–Häftlinge und Rückkehrer
Selbst zwei Jahre nach dem Sieg über ISIS verbleiben zehntausende Anhänger in Gefangenenlagern kurdischer und irakischer Streitkräfte. Mehrere hundert wurden bereits zu lebenslangen Haftstrafen oder zum Tode verurteilt. Menschenrechtsgruppen verurteilten dieses Vorgehen und Vorwürfe der Folter zur Erzwingung von Geständnissen. Gleichzeitig weigern sich jedoch Herkunftsstaaten der sogenannten Foreign Fighters, selbige wieder zurückzunehmen. Insbesondere der Umgang mit den Kindern der IS-Kämpfer erhitzt die Debatte, da Kollektivstrafen im Verständnis mancher Kulturkreise des Nahen Ostens durchaus ein legitimes Mittel darstellen, Irak sich jedoch gleichzeitig um seine Integration in die Weltgemeinschaft bemüht.
Fazit
Irak bemüht sich unter seinem neuen Präsidenten Mahdi um die Neutralität im Nahen Osten und die Integration in die Weltgemeinschaft. Innenpolitisch ist das Land noch fragil. Die Terrorgruppe ISIS ist territorial besiegt, könnte jedoch auf lange Sicht wieder erstarken. Gefangene Dschihadisten belasten das irakische Justizsystem enorm, was durch die verweigerte Kooperation westlicher Herkunftsstaaten verschärft wird. Externe Interessierte drohen zudem Irak in einen regionalen Stellvertreterkonflikt zu ziehen.
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