In vielen Lebensbereichen stellen wir heute einen erschreckenden Schwund der von Verantwortung und Gestaltungswillen getragenen Entscheidungen fest. Dies gilt nicht nur für Studien- und Heiratspläne, sondern auch auf dem politischen Parkett. Eine beunruhigende Tatsache. Denn Entscheidungen – ob gut oder schlecht – führen vorwärts und werden nicht selten honoriert.

Wurde man vor 50 Jahren auf deutschen Straßen noch scheel beäugt, wenn man in seinen Mittdreißigern noch nicht unter der Haube war – tuschelnd belächelt, wenn dann nicht auch bald Kinder kamen – und noch missgünstiger angesehen, wenn der eingegangene „Bund für das Leben“ zerbrach, so scheinen dem Kosmopoliten des 21. Jahrhunderts solche Sichtweisen unwillkürlich bizarr. Nicht nur die Geburtenrate in Deutschland ist im Vergleich zu anderen OECD-Staaten heute unterdurchschnittlich. Auch in anderen Kategorien schneiden wir verhältnismäßig schlecht ab. Auch die Zahl der Eheschließungen ging innerhalb der letzten 30 Jahre stark zurück, bei gleichzeitigem Anstieg der Scheidungen.
Geld ist keine Motivation
Dabei ist Deutschland eigentlich ein Land, in welchem sehr viel für Familien getan und vor allem ausgegeben wird. Über 195 Mrd. € pro Jahr „investiert“ der Staat jährlich direkt oder indirekt in Familien. Besonders großzügig ist man bei der Kinderbetreuung. So übernimmt die Allgemeinheit bei der Finanzierung eines einzigen Krippenplatzes im Monat ca. 1000 Euro der Kosten, um es Familien aus allen so genannten „sozialen Schichten“ zu ermöglichen, ein Kind in einer KiTa betreuen zu lassen. Dass die absolute Ausgabensumme sich weiter erhöhen wird, wenn der Rechtsanspruch auf einen Platz in einer solchen Einrichtung greift, liegt auf der Hand.
Dennoch bleibt das Phänomen, dass Deutschland in puncto Geburtenrate einen der schlechtesten Plätze belegt. So lag die Geburtenrate 2011 nicht einmal bei 1,4%. Dies ist selbst für eine moderne Industrienation unterirdisch. Trotz enormer staatlicher Unterstützung werden hierzulande sehr wenige Kinder geboren – und trotz großer Steuererleichterungen, wie etwa dem Ehegattensplitting, werden kaum Ehen geschlossen: nicht nur, dass heute weniger Menschen heiraten 1990, die Zahl der Scheidungen hat seitdem auch zugenommen. Vor 20 Jahren noch wurden etwa 30.000 Ehen im Jahr weniger geschieden. Es ist aber mitnichten der Fall, dass nur in familiären Belangen eine Instabilität grassiert, die besorgniserregend ist. Auch andere Ebenen menschlicher Lebensentwürfe, wie etwa die Hochschulbildung, sind vom Bazillus des Sprunghaften seit längerem befallen.
Wenig Entschlussfähigkeit bei der Studienwahl
Bereits 2005 beschrieb die ZEIT die heranwachsende intellektuelle Elite als „Generation Praktikum“, eine Bezeichnung, die einem vor Augen führt, wie wenig entschlossen junge Leute vielerorts sind, wenn sie das Abitur hinter sich gebracht haben und von ihnen eigentlich erwartet wird, dass sie ein Studium beginnen und es noch vor dem 30. Lebensjahr abschließen. Dass dies aber höchstens die halbe Wahrheit ist, bezeugen etliche Beispiele von Schulabsolventen, die eben nach der Schulzeit erst einmal ein Praktikum machen, dann wahlweise ein FSJ und danach eine Ausbildung beginnen. Das Studium rückt zunächst in weite Ferne – man möchte sich ja nicht festlegen. Aber auch der Beginn eines Studiums ist kein Garant für eine endgültige Entscheidung. Die größte Hürde dabei ist vielerorts das erste Semester.
Studienabbrecher trotz Bologna
War es ein Ziel der europaweiten Hochschulreform, die Zahl der Studienabbrecher zu senken, so wurde es nicht erreicht. Deutschland lag 2008 mit 33 Prozent Studienabbrechern sogar über dem Durchschnitt der anderen Industrienationen – dort waren es 31 Prozent. Die FAZ titelte diesbezüglich im Oktober letzten Jahres: „das verflixte erste Semester“. Dort heißt es, dass die Zahl der Abbrecher in ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen bei fast 50 Prozent liegt. Im ersten Semester gibt es dabei die meisten Absprünge überhaupt. Das ist zwar nicht weiter verwunderlich aber die Zahl ist erschreckend, wenn man bedenkt, dass man sich vor Studienbeginn sicher Gedanken bezüglich seines Werdegangs gemacht haben wird. Nach der Feststellung, dass Institutionen wie Familien und universitäre Fakultäten nicht so unzerbrechlich sind wie sie scheinen, hofft man darauf, dass dieses Phänomen zumindest in den Parlamenten nicht anzutreffen ist. Aber: weit gefehlt!
Politik fürchtet Entscheidungen
Der 2007 einberufene Deutsche Ethikrat beschäftigt sich seit seiner Gründung mit Themen von hoher gesellschaftspolitischer Relevanz und Brisanz wie etwa mit Fragen zum Umgang mit Intersexualität oder Gen- und Organtechnik. Die Besetzung des Ethikrates ist auf der einen Seite vielversprechend, andererseits auch selten spannungslos, prallen dort doch Theologen, Juristen, Mediziner und Philosophen aufeinander, mit ihren je eigenen Vorstellungen zu Moral und Gestaltung eines würdigen Lebens und Sterbens. Der Ethikrat ist indes gesetzlich dazu aufgefordert, eine „Erarbeitung von Stellungnahmen sowie von Empfehlungen für politisches und gesetzgeberisches Handeln“ zu geben. So heißt es in §2 des Ethikratsgesetzes von 2007.
Dass unsere Abgeordneten solchen „Empfehlungen“ nicht unterlegen sind, ist vom Grundgesetz her zwar geregelt, dennoch stellt sich die Frage, inwieweit man wichtige Debatten in Gremien neben dem Bundestag auslagern soll und dort darüber quasi-moralisch entscheiden lässt. Denn nicht nur der Ethikrat ist ein bewährtes Mittel, um sich um eine eigene Position „zu drücken“ – das gleiche gilt auch auf höheren Ebenen. Wenn man mittels „Glühlampenverordnung“ den Vertrieb der klassischen Glühbirne einschränkt oder per EG-Dekret die Krümmung der „Eurobanane“ festlegt, drängt sich der Eindruck geradezu auf, dass ebensolche Debatten, auf die Europa-Ebene „outgesourced“ werden, die man einem nationalen Parlament nicht zumuten will und über die am besten nicht geredet werden soll, da ihre Relevanz fraglich erscheint.
Die oben genannten Schemata ließen sich noch erweitern, denn in vielen Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens, im Beruf und schon in der Schule schreckt man vor Entscheidungen zurück. Mit Entscheidungen geht Verantwortung einher – doch wer möchte heute noch Verantwortung übernehmen? Viele Prozesse erscheinen uns zu komplex, als dass man es wagen würde, hier ein Machtwort zu sprechen. Man könnte sich ja irren, man könnte falsch liegen und man könnte dann dafür zur Rechenschaft gezogen werden.
Alternativlose Unentschlossenheit?
Aber ist dies wirklich die einzige Alternative? Jede Entscheidung wird „ausgelagert“? So lautet bei vielen Unternehmen die Konsequenz, wenn es um „das ganz große Geschäft“ geht. So werden insbesondere Entscheidungen von hoher Wichtigkeit in Unternehmen gerne von außen geklärt, auch wenn man eigene Rechtsabteilungen unterhält. Schließlich ist dann, wenn etwas schief geht, doch wieder keiner Schuld. Dies führt unweigerlich in eine Entscheidungsstarre und dazu, dass nur die „Abenteuerlichen“ vorankommen. Aber gerade Risiken will man allerorts vermeiden. Risikovermeidung indes verleitet ihrerseits dazu, dass man insgesamt einen Rückzieher macht vor Kulturen und Wirtschaftssystemen, die viel pragmatischer an Probleme herangehen.
Die Crux dabei ist, dass, während hierzulande immer nach „dem Schuldigen“ gesucht wird, man anderorts eher „die Lösung“ des Problems im Auge hat. Wenn also etwas auf die schiefe Bahn gerät – sei es die Ehe, weil der Mann fremdging, ein „Big Deal“, bei dem zuvor das Kleingedruckte übersehen wurde, eine Hausarbeit, an deren Versagen einzig der Professor Schuld hat, oder eine Umweltverordnung, die die Kosten für Windräder falsch kalkulierte – trachtet man in deutschen Gefilden nach demjenigen, den man dafür rügen kann.
Wer wagt, gewinnt!
In einem solchen Umfeld wagt man natürlich auch nichts. Wenn allerdings ein pragmatisches Umdenken auch bei uns Einzug fände und man versuchte, entstandene Probleme, von denen es bei mehr „Entscheidungsfreudigkeit“ sicherlich nicht weniger geben wird, gemeinsam zu lösen, dann käme auch Mut auf, etwas anzupacken. Wir würden uns wieder zu Entscheidungen durchringen – weil wir wissen, dass wir uns aufeinander verlassen können. Tritt die „Schuldfrage“ in den Hintergrund, so richtet sich das Augenmerk auf den „Lösungsauftrag“ eines Problems.
Das erfordert natürlich Mut zur Verantwortung und Durchhaltevermögen. Wer sich aber nach reichlicher Überlegung zu einer wichtigen Entscheidungen durchgerungen hat, sollte sich davon nicht übereilt trennen. Zudem ist nicht zielführend, bei jedem sich auftuenden Problem, den Mut zu verlieren und alles hinzuschmeißen. Denn nur wer wagt, gewinnt und wer entscheidet, trägt Gewinn und Verantwortung. Ohne Entscheidungen bleiben wir stehen und erreichen am Ende noch weniger, als wenn wir uns falsch entscheiden. Darum ein Appell an die Unentschlossenen: Traut euch!
Dieser Beitrag ist Teil einer Kooperation mit der Stabsabteilung Medien im Erzbistum Köln. Jeden ersten Sonntag im Monat schreiben wir exklusiv einen Gastbeitrag für die Facebook-Seite Firmlinge im Gespräch mit Weihbischof Schwaderlapp.
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