„Die SPIEGEL-Affäre war eine Mahnung an die staatlichen Organe“, so Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen Deutschland, im Interview mit f1rstlife: „Die Unabhängigkeit der journalistischen Recherche wurde damals eingeschränkt – und stellt somit eindeutig einen Eingriff in die Pressefreiheit dar.“ Doch was genau war geschehen?
Im Oktober 1962 veröffentlichte das Magazin DER SPIEGEL den Artikel „Bedingt abwehrbereit“ von Conrad Ahlers. In diesem Bericht erklärte Ahlers, dass das NATO-Planspiel Fallex 62 gezeigt habe, dass Deutschland im Falle eines Angriffs des Warschauer Pakts keine Chance zur Verteidigung hätte. Das vom damaligen Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß (CSU) ausgearbeitete Verteidigungs- und Verpflegungskonzept sei laut NATO nur „zur Abwehr bedingt bereit“ gewesen, was in einem vierstufigen Qualitätssystem die schlechteste Einstufung darstellt. Verständlich, dass diese Veröffentlichung dem Staat ganz und gar nicht gefiel. Fortan wurde Ahlers des Landesverrates beschuldigt. Er habe streng geheime Staatsdokumente öffentlich gemacht und so die junge Bundesrepublik in Gefahr gebracht. Ein Gutachten bescheinigte auch 41 Staatsgeheimnisse, die Ahlers im Artikel veröffentlicht habe.
Journalist wird strafrechtlich verfolgt
„Landesverrat" war 1962, nur 17 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, ein heftiger Vorwurf. Am 15. Oktober, genau eine Woche nach Veröffentlichung des Artikels, regte Franz Josef Strauß höchst persönlich eine Strafverfolgung von Ahlers und verschiedenen SPIEGEL-Mitarbeitern an. Obwohl die Strafverfolgung in keinster Weise in Strauß’ Aufgabengebiet fiel, erhielt er vom damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer die volle Unterstützung.
In den darauffolgenden Tagen wurden die Telefonleitungen der SPIEGEL-Redaktion abgehört, ehe die Polizei am 26. Oktober die Hamburger Redaktionsräume des Magazins besetzte, um Dokumente zu beschlagnahmen, das Gebäude zu räumen und Verdächtige zu verhaften. Noch in der Nacht wurden die Wohnungen von fünf SPIEGEL-Redakteuren in Hamburg und Bonn durchsucht. Zudem wurden die beiden Chefredakteure festgenommen, ebenso wie der Leiter des Bonner SPIEGEL-Büros, nachdem man dieses ebenfalls durchsucht hatte. Wenig später wurde auch SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein festgenommen, sowie der sich im Urlaub befindliche Conrad Ahlers.
Angriff auf die junge Pressefreiheit
Bereits am 28. Oktober, also zwei Tage nach den Durchsuchungen, kam es zu ersten Protesten gegen Strauß und die SPIEGEL-Besetzung. In den folgenden Tagen wurden die Proteste und Demonstrationen im ganzen Land immer lauter. Die Aktion von Strauß wurde als ein Angriff auf die noch junge Pressefreiheit gesehen, die es erst seit 13 Jahren wieder gab. Damit der SPIEGEL aber weiter arbeiten und die Pressefreiheit durchsetzen konnte, stellten verschiedene Hamburger Verlage ihre Redaktionsräume zur Verfügung.
Einige Tage später wurde die Kritik so laut, dass sich Bundesverteidigungsminister Strauß (CSU) zu einer Erklärung genötigt sah: Er sagte, er habe „mit der Sache nichts zu tun. Im wahrsten Sinne des Wortes nichts zu tun." Die Minister des Koalitionspartners FDP drohten daraufhin mit ihrem Rücktritt. Auch andernorts regte sich langsam Kritik in der Politik. Der damalige Hamburger Innensenator Helmut Schmidt verstand das Vorgehen gegen die SPIEGEL-Redakteure als eine „zweifelhafte Angelegenheit“. Auch ihm wurde später zumindest Beihilfe zum Landesverrat angelastet. Erst am 9. November 1962 gab Franz Josef Strauß im Bundestag zu, dass er an der Strafverfolgung der Redakteure beteiligt war. Kein Wunder also, dass es zehn Tage später zu einer Regierungskrise kam, in deren Folge alle fünf FDP-Minister zurücktraten. Nur Franz Josef Strauß ließ sich nicht beirren und hielt an seinem Amt als Bundesverteidigungsminister fest.
Die Regierungskrise entschärfte sich erst, als Konrad Adenauer Mitte Dezember 1962 ein neues Kabinett ohne Strauß bildete und selbst erklärte, im Herbst 1963 zurückzutreten. Die SPIEGEL-Redaktionsräume waren bereits Ende November freigegeben worden. Dennoch blieben mehrere tausend Dokumente verschwunden. Zudem saßen die fünf verhafteten SPIEGEL-Mitarbeiter weiterhin im Gefängnis. Erst am 7. Februar 1963 wurde Rudolf Augstein nach über 100 Tagen Haft entlassen. Zwei Jahre später, im Mai 1965 lehnte der Bundesgerichtshof eine Gerichtsverhandlung gegen Augstein und Ahlers ab. Im Dezember desselben Jahres stellte ein weiteres, diesmal unabhängiges Militärgutachten fest, dass Ahlers’ Artikel niemals Staatsgeheimnisse veröffentlicht hätte und somit auch kein Landesverrat vorliege.
Pressefreiheit keine Selbstverständlichkeit
Pressefreiheit ist bis heute nicht selbstverständlich. Deutschland liegt in der jährlichen Liste von Reporter ohne Grenzen auf Platz 17 der Länder, die Pressefreiheit gewährleisten. „Das bedeutet keine Platzierung unter den Top-Ländern, aber auch nicht unter den allerschlechtesten“, erklärt Mihr. Damals wie heute sorgt das Bundesverfassungsgericht für einen hohen Standard in der Pressefreiheit. Dennoch komme es immer wieder zu Verfolgungen von Journalisten. So erzählt Mihr, dass man im Zusammenhang mit Recherchen zum Thema „Castor-Transporte“ Telefonate von Journalisten abgehört habe, um Dritte zu verfolgen. Aber auch im kleinen Rahmen sei es wieder zunehmend schwieriger geworden, unabhängig zu arbeiten. Fotojournalisten hätten beispielsweise immer öfter Probleme, sich bei halboffiziellen Veranstaltungen zu akkreditieren. So weit, wie zu Zeiten der SPIEGEL-Affäre wird es aber wohl nicht mehr kommen. Nicht nur das Bundesverfassungsgericht bestärkt die Rechte der Presse immer wieder. Es gibt laut Mihr in Deutschland eine „kritische Öffentlichkeit und hohe Sensibilität bis heute“.
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