„Ich nehme nun allen Mut zusammen und erzähle meiner WG-Mitbewohnerin von meiner psychischen Erkrankung“, raunte ich mir innerlich zu. Mit pochendem Herzen und hochrotem Kopf stammelte ich etwas von Depressionen. Sie schwieg, grinste breit und ließ mich stehen. Auf meinem weiteren Genesungsweg lernte ich, wann ich überhaupt davon erzählen wollte, wie ich es preisgab und welche Hilfestellungen ich meinem Gegenüber mitgeben konnte.
Gibt es einen richtigen Zeitpunkt?
Mittlerweile kann ich Situationen besser einschätzen und weiß daher, wann es für mich oder für andere einen Mehrwert bietet, von meiner psychischen Erkrankung zu berichten. Beispielsweise dann, wenn ich eine Freundschaft intensiviere und Symptome sichtbar werden. Diese möchte ich meinem Gegenüber erklären und sie in einen Rahmen einordnen. Zum Beispiel bin ich schnell erschöpft, reizüberflutet und brauche Nischen, in denen ich mich regenerieren kann. Durch diese Informationen gebe ich meinem Gegenüber die Möglichkeit, seine Bedürfnisse mit meinen abzugleichen.
Dadurch sind auch Freundschaften zerbrochen, weil wir keine Einigung mehr gefunden haben. Auch wissen manche Freunde nichts von meiner psychischen Erkrankung, weil uns eher bestimmte Themen oder Hobbys verbinden und Persönliches eher im Hintergrund steht. Bisher gab es für mich passende Zeitpunkte, in denen ich gespürt habe, dass mein Gegenüber offen für mich war und mich verstehen wollte. Falsche Zeitpunkte habe ich detektiert, wenn ich bemerkt habe, dass jemand sehr viel eigene Probleme und wenig Kapazität hat. Bei Arbeitsstellen habe ich erst die Mitteilung gemacht, wenn ich zu starken Druck erlebt habe, um mich selbst ein wenig zu entlasten.
Wem sage ich es?
Es gab eine Zeit, in der ich recht schnell, auch Unbekannten, von meiner psychischen Erkrankung erzählte. Das war öfters unreflektiert in Akutzeiten oder direkt danach. Als ich aber einen anderen Umgang mit der Erkrankung fand und auch wieder regenerierte, ging ich behutsamer damit um. Es muss nicht jeder wissen und es ist sinnvoll, zu überlegen, wem ich vertrauen will. Auch bei Arbeitsstellen gibt es Kollegen, die einen nicht mehr für voll nehmen und einen aus der Brille des psychisch Erkrankten erblicken.
Mein Tipp ist hierbei, nur den Kollegen Bescheid zu geben, die Diskretion wahren und hilfreich sein könnten für die Bewältigung der Arbeitsaufgaben., Schließlich ist es notwendig, sich im Voraus zu überlegen, wie man von seiner Erkrankung berichten will. Ich habe mir meistens Sätze überlegt und sie auch verschriftlicht, weil die Aufregung sehr hoch in den Momenten der Preisgabe war.
Wie fallen die Reaktionen aus?
Um dies zu veranschaulichen, habe ich ein Bullshit-Bingo erstellt. Lies dir gerne die Aussagen durch. Hast du Ähnliches erlebt oder vielleicht zu einem Betroffenen gesagt?
| Kopf hoch! | Steigere dich da nicht rein, sonst wird es noch schlimmer. | Wirf dein Leben nicht weg wegen so einer Diagnose. | Du bist doch nicht depressiv. |
| Ich würde in keine Klinik gehen. Da bist du stigmatisiert für dein Leben. | Früher warst du doch nicht so. | Ach, wir leben einfach weiter wie bisher. Das wird schon. | Bist du jetzt auch so ein Psycho? |
| Sind heutzutage nicht alle psychisch krank? | So schlimm kann das nicht sein. | Schweigen. | Du siehst so fit aus. Bist du sicher, dass du das hast? |
| Die Jugend von heute ist nicht mehr belastbar. | Du bist einfach zu sensibel. | Wenn du nichts davon gesagt hättest, hätte ich es nicht mal gemerkt. | Lachen. |
| Du denkst halt zu negativ. Da würde ich auch krank werden. | Schade um dein Leben. Du bist noch so jung. | Hast du schon xy ausprobiert? | Ich kenne xy, der/die hat das auch. |
Was ist so schwierig an diesen Reaktionen?
Als Betroffene habe ich zum einen die Sichtweise, dass ich die Scham kenne, von einer psychischen Erkrankung zu erzählen. Als ich noch sehr verunsichert war und nicht wusste, was mir durch die Erkrankung widerfahren ist, konnte ich das meinem Gegenüber nicht gut vermitteln. Möglicherweise habe ich dadurch die Verunsicherung weitergegeben. Auch kenne ich die Perspektive als Angehörige von psychisch erkrankten Personen und konnte dadurch meinen Blickwinkel erweitern.
Manches Outing hat mich wie eine Hiobsbotschaft erreicht und ich konnte emotional die Situation nicht verarbeiten. Da werden schnell Worte ausgesprochen, die aus den eigenen Ängsten entspringen. Auch habe ich schon in unpassenden Situationen gelacht, weil ich das als Ventil und als Bewältigungsstrategie erlebt habe. Ebenso kenne ich das vorschnelle Weitergeben von gut gemeinten Ratschlägen, das Vergleichen von anderen psychisch Erkrankten und das Festhalten an der eigenen Wahrnehmung als die absolute Wahrheit. Erfahrungsgemäß legen diese Aussagen aber Steine in den Weg für das Gegenüber. Diese beschweren eine Beziehung und schüren Misstrauen.
Wie kann ich besser reagieren?
Für mich hat sich die Methode „atmen-überlegen-(nach)fragen“ bewährt. Was macht das gerade mit mir, dass mir jemand von seiner Erkrankung erzählt? Welche Gedanken und Gefühle werden bei mir angestoßen? Durch das bewusste Weiteratmen verhindere ich, vorschnell und unreflektiert los zu plappern. Ich signalisiere meinem Gegenüber, dass ich aufmerksam zuhöre und frage ihn, ob ich ihn richtig verstanden habe.
Manchmal stelle ich noch Fragen, falls ich etwas nicht verstanden habe oder wenn ich konkret wissen will: „Wie darf ich dir begegnen? Welchen Umgang wünschst du dir? Muss ich auf etwas Bestimmtes achten?“ In weiteren Gesprächen oder je nach Intensität der Beziehung erbitte ich weitere Infos. „Was ist in einem Akutfall zu tun? Hast du eine Notfallliste? Welche Erwartungen hast du an mich?“
Positive Erfahrungen
Als Betroffene habe ich manche Momente als sehr wohltuend und genesungsfördernd erlebt. Manchmal braucht es einen anderen Raum, um sich zu outen oder mehr Entwicklung und Veränderung in der Beziehung. Auch als Erwachsener seinen Eltern von der psychischen Erkrankung mitzuteilen, braucht ein gewisses Fundament. Meine Mutter stellte immer wieder die Schuldfrage und wollte an der Erkrankung keinesfalls schuld sein. Das verhinderte lange Zeit, dass wir offen und wertfrei darüber sprechen konnten.
Hier stelle ich ein Bingo zur Verfügung mit den schönen Momenten und Aussagen, die mein Herz erwärmt haben.
| Danke, dass du mir das anvertraut hast. | Jetzt verstehe ich dich besser. | Ich habe mich nicht getraut zu fragen, was mit dir los ist. Entschuldige bitte. | Hilfst du mir bitte, dich besser zu verstehen? |
| Darf ich Fragen stellen zu dem, was du mir erzählt hast? | Ich brauche Zeit, um zu verarbeiten, was du mir mitgeteilt hast. Ist das in Ordnung für dich? | Gibt es eine Information über deine Erkrankung, die dir besonders wichtig ist? | Ich kenne mich mit psychischen Erkrankungen nicht aus. Aber ich bin gerne bereit, dir zuzuhören. |
| Ich nehme dich an, so wie du bist. | Was wünschst du dir für unseren zukünftigen Umgang? | Darf ich dir berichten, was deine Informationen bei mir auslösen? | Wie darf ich dich unterstützen? |
| Wie gehen wir zukünftig mit schwierigen Momenten um? | Ich bin freudig gespannt, wie unsere Freundschaft sich entwickelt. | Ich werde dir ehrlich sagen, wenn es mir selbst zu viel wird. | Ich bin für dich da. |
Nach dem Outing
Für mich waren die Momente der Offenlegung meiner psychischen Erkrankung sehr befreiend, wenn ich auf Wohlwollen und Diskretion gestoßen bin. Ebenfalls denke ich, dass die Reaktionen aus dem Umfeld großen Einfluss auf den weiteren Genesungsweg haben. Mittlerweile kann ich auch mit schrägen Kommentaren oder Vorwürfen besser umgehen, weil ich verstanden habe, dass die meisten Menschen aus ihren eigenen Verletzungen und bisherigen Erfahrungen heraus sprechen.






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