Deutschlands Grundschüler erzielen im internationalen Vergleich Spitzenergebnisse. Der Erfolg hat jedoch seinen Preis: Die ABC-Schützen sehen sich immer höherem Leistungsdruck ausgesetzt.

Der Kopf ist in die kleinen Händchen gestützt. Die Stirn liegt in Falten. Sophia T. sitzt an ihrem Schreibtisch vor einem Berg von Hausaufgaben. Es ist 14 Uhr. Seit gerade einmal 20 Minuten ist die 7-Jährige daheim. In Windeseile hat sie eine halbe Portion Spaghetti verdrückt. Gleich darauf muss die Zweitklässlerin wieder an Stift und Schreibheft. Kurz ins Bad, nächster Stopp: Schreibtisch. „Heißt es ‚le‘ oder ‚la‘ poire, Mama?“, tönt das zarte Stimmchen aus dem Kinderzimmer Richtung Küche. Mutter Sybille hilft aus: „La poire, wie im Deutschen: die Birne.“ Während die 46-Jährige hektisch ein paar Sportklamotten zusammensucht und in einen Beutel stopft, kritzelt Sophia wilde Zahlenkombinationen in ihr Matheheft. „Jetzt beeil‘ dich, sonst kommst du zu spät zum Turnen“, ermahnt sie ihre Tochter.
Zu hohe Erwartungen an Grundschüler
Wie Sophia geht es vielen Zweit- und Drittklässlern in Deutschland. Das ergab eine repräsentative Studie des Deutschen Kinderschutzbundes (DKSB) und des Instituts für Sozialforschung Prokids im November vergangenen Jahres. Den Ergebnissen zufolge leiden bereits Schüler im Alter von sieben bis neun Jahren unter enormem Leistungsdruck. Fast 5.000 Kinder nahmen anonym an der Studie teil. Für jeden Dritten würden Aspekte des Schulalltags zu den größten Stressfaktoren zählen, so Studienleiterin Anja Beisenkamp. Darunter fielen Hausaufgaben, Tests, aber in erster Linie die Angst vor Überforderung.
Umso wichtiger wäre ein kindgerechter Ausgleich zu Stress. Dafür bleibt allerdings kaum Zeit: „Manchmal kann ich mittags gar nicht spielen, weil ich so viel für die Schule machen muss“, berichtet Sophia betrübt. Das gesamte Umfeld setze die Kinder unbewusst unter Druck. Für die Kleinen habe es den Anschein, als seien gute Noten der Schlüssel zu einem glücklichen Leben, kritisieren vielen Kinder-und Jugendpsychotherapeuten an der Gesellschaft. Das Problem liege nicht an den Kindern, sondern an den hohen Erwartungen, denen sie sich ausgesetzt sehen. Wird den Schülern etwa die Kindheit genommen?
Schulischer Erfolg vs. Kind sein?
Laut der „Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchungen“ (IGLU) sowie der „Trends in International Mathematics and Science Study“ (TIMSS) aus dem Jahr 2011, sind die deutschen Grundschüler im europäischen Vergleich durchgehend im oberen Drittel platziert. Ob der Erfolg es wert ist, die Kinder so früh an das Erwachsenendasein zu gewöhnen, wagt Mutter Sybille aber zu bezweifeln: „Sophias Alltag ist komplett durchstrukturiert: Schule, Hausaufgaben, Lernen – da kommen die Hobbys schon mal zu kurz.“ Das ist äußerst bedenklich, denn Sophia hat nicht nur Spaß am Lernen, sondern auch an ihren Freizeitbeschäftigungen: Turnen, Musizieren, Schwimmen, Skifahren – es gibt wenig Dinge, für die sich die 7-Jährige nicht begeistern kann. Aber wenn die Zeit fehlt, müssen Hobbys hinten anstehen. Schule geht vor.
Die Studie des DKSB gibt zudem Aufschluss darüber, wie sich die Zweit- und Drittklässler am häufigsten entspannen. Zu den beliebtesten Aktivitäten gehören demnach das Spielen an der frischen Luft, Lesen, Schlafen und Malen. Langeweile kennen die Kleinen also nicht. Dabei spielt besonders die Langeweile im Entwicklungsprozess eine wesentliche Rolle, um die Kreativität zu fördern. Die deutschen Kinderärzte sind sich einig, dass man nur so lernen könne, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Die Mediziner führen auch physische Erkrankungen der Schüler auf den Leistungsdruck zurück: Kopf- und Magenschmerzen, Übelkeit oder sogar Schlafstörungen seien keine Seltenheit.
Morgens Grundschülerin, abends Puppenmama
Sybille möchte es bei ihrer Tochter nicht so weit kommen lassen. Am Abend vor dem Zubettgehen beharrt Sophia darauf, noch einmal die Hausaufgaben zu überprüfen. Hektisch blättert die Grundschülerin Seite für Seite des Matheheftes um. Ihre Mutter legt die Hand auf die kleinen Fingerchen: „Du hast alles erledigt, Sophia. Es ist gut, so wie es ist.“ Ein Lächeln huscht über die Lippen der Zweitklässlerin. Statt Hausaufgaben zu später Stunde, nimmt sie sich noch ein bisschen Zeit, um mit ihren Puppen zu spielen. Für Sophia soll die Schule nicht zum Stressfaktor Nummer eins werden. Sie darf heute Abend einfach nur Kind sein.
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