Wenn mir jemand erzählen würde, wie leidenschaftlich und inbrünstig die Kasachen in Gruppen singen, hätte ich das Ausmaß der Stimmgewalt, das mein Ohr zum vibrieren bringt, niemals erahnen können. Was ich an diesem kühlen letzten Sommerabend erlebte, brachte in mir eine Hitzewelle zum Vorschein. Ein letzter Gruß. Ein letztes Mal die heiße Umarmung eines Sommers in Almaty.
Hier saß ich nun vertieft in meine Lektüre “Practice for Social Sciences Research” an einem angenehmen kühlen letzten Sommerabend in Almaty an der Panfilov Straße, einer neu gestalteten Touristenpromenade. Wenn sich auch selten Europäer hierher verirren, es ist der Urlaub der Einwohner von Almaty.
Nicht gewillt, das mit dem heutigen Tag, den 1. September 2019 der Herbst begann, bestellte ich mir einen “Mooz Iced Latte”, und setzte mich vor den Eingang des Cafés neben einem peng-rot gestrichenen und leicht abgenutzten Klavier. Die Bildschirmreklame, in Form eines großen alten Fernsehers strahlte bunt und wild durcheinander auf die Fußgängerzone. Es hätte nicht besser sein können. Das perfekte Ambiente um sich auf die neue Studienwoche einzustimmen. Der ein oder andere Passant klimperte auf dem verstimmten Klavier.
Die Pflichtlektüre war spannend. Earl Babbie schreibt in seinem Buch:
„Das meiste was Du und ich wissen basiert auf einem Einverständnis und Glauben. Nur wenig davon basiert auf persönlichen Erfahrungen und Entdeckungen. … Das meiste unseres Wissens wurde uns erzählt. Es ist nichts Falsches daran Wissen zu glauben. Es ist die Art und Weise wie die menschliche Gesellschaft strukturiert ist. Das ist eine überaus hilfreiche Eigenschaft. Die Basis von Wissen ist Einverständnis. … Wenn unsere Erfahrung im Widerspruch mit dem steht, was alle anderen glauben, dann ist die Chance hoch, dass wir unsere Erfahrung zugunsten des Einverständnisses aufgeben werden.“ (Übersetzt aus dem Englischen: The Practice of Social Research, Earl Babbie 2010).
Die brennenden Stimmen der Kasachen
Wenn mir jemand erzählen würde, wie leidenschaftlich und inbrünstig die Kasachen in Gruppen singen, hätte ich das Ausmaß der Stimmgewalt, das mein Ohr zum vibrieren bringt, niemals erahnen können. Was ich an diesem kühlen letzten Sommerabend erlebte, brachte in mir eine Hitzewelle zum Vorschein. Ein letzter Gruß. Ein letztes Mal die heiße Umarmung eines Sommers in Almaty.
Während dem Lesen setzte sich erneut ein junger Kerl an das Klavier und begann immer wieder die gleichen vier Akkorde zu spielen. In dieser Wiederholung singend, stimmten seine Freunde mit ein. Sie sangen immer lauter und voller Inbrunst. Es waren Lieder über die verlorene Liebe, die Kämpfe einer Beziehung und der Leidenschaft des Lebens. Um uns scharrten sich immer mehr Fußgänger. Ich war weiterhin vertieft in meiner Aufgabe, als die Menschenmasse so groß war, dass ich den Fakt nicht mehr ignorieren konnte Teil der Bühnendekoration zu sein. Von außen betrachtet ein sehr komisches Bild. Ich sitzend, vertieft in meinem wissenschaftlichen Text über die Lehre des Menschen und in meiner Armlängennähe das Stimmenensemble der jungen Leute über das Leben. Die mittlerweile über 50 Passanten stimmten im unisono in den singenden Erzählungen ein. Sie waren um uns gescharrt. Dicht gedrängt. Mein Innerstes vibrierte. Die musikalische Leidenschaft der Einheimischen ließ mein Herz brennen. Die ganze Nacht hätte ich zuhören können.
Plötzlich stand da ein Mann mit großem Diensthut neben dem Pianisten und so plötzlich dieser Moment entstanden war, verwehte er im Wind. Selbst in Kasachstan sind Menschen empfindlich gegenüber Lautstärke am Abend. Für mich war der Moment wie der Sommer. Vergangen und kaum noch spürbar. So sehr er auch einnehmend gewesen war.
Eine kleine Gutmachung kam in Form einer Rückgabe meines verlorenen Geldes. Nachdem die Menge verstreut war, kam ein Mitarbeiter des Cafés Mooz auf mich zu und stellte mir vermehrt die Frage, ob ich Geld verloren hätte. Ich verneinte. Er versuchte es vergeblich ein paar weitere Male. Er gab nicht auf. Erneut sprach er mich an und diesmal war er erfolgreich. In meiner kurzen Hosentasche grabend realisierte ich, dass ich tatsächlich Geld verloren hatte. 2.500 Tenge. Er hatte bis nach der Vorstellung darauf gewartet mich zu fragen. Wie lieb dieser Kasache ist.
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