Was passiert gerade in dir? Was macht die Ausnahmesituation, in der wir uns befinden, mit dir und deinen Zukunftsplänen? Wenn du einen Brief an dein Ich in 20 Jahren schreiben würdest, was würdest du schreiben?
Liebes Ich in 20 Jahren,
ich weiß nicht, in welcher Welt Du jetzt lebst. Bist Du noch aus Fleisch und Blut oder bestehst Du schon aus dem ewigen Licht? Ich weiß nicht, wie sich die Gesellschaft Dir gegenüber in deiner letzten Zeit verhalten hat und wenn Du noch lebst, wie sie sich verhalten wird, denn es ist wahrscheinlich, dass Dein Ende nah ist.
Deine Lebenserwartung ist begrenzt, eigentlich dürfte es mich selbst in dieser Zeit, in der ich Dir diese Zeilen schreibe, nicht mehr geben. Wenn Du es mit dieser Muskelerkrankung bis jetzt geschafft hast, dann bist Du heute 43 Jahre alt und wahrscheinlich in einem Zustand, den ich mir nicht vorstellen kann und möchte. Ich weiß nicht, ob Du Dich noch an mich und meine Zeit erinnerst: Wir sind gerade am Anfang der Corona-Pandemie.
Ich gehe schon lange nicht mehr raus, denn ich weiß nicht, was passiert, wenn ich mich mit diesem Coronavirus infiziere. Ich möchte noch nicht sterben, ich habe noch so viel zu erleben. Die Zahlen über Infektionen und Tote aus anderen Ländern sind erschreckend. Genauso wie die Vorgehensweisen bei der Vergabe von Beatmungsplätzen auf der Intensivstation. Deutschland kam bisher mit dem blauen Auge davon. Es gibt keinen Impfstoff, keine erfolgreiche Behandlungsmöglichkeit und immer noch zu viele Neuinfektionen und Todesfälle. Jeder Tote ist einer zu viel, und trotzdem schreien sie alle ganz laut nach ihrem alten Leben.
Es ist plötzlich wichtiger denn je, in kleinen Geschäften um die Ecke einkaufen zu gehen. Es ist eine Einschränkung der Freiheit, wenn es nicht geht. Selbst wenn man dieses Geschäft noch nie von innen gesehen hat. Patriotische Rufe nach Freiheit hallen durch die verwaisten Städte, Bill Gates, die Regierung und die Pharmafirmen sind plötzlich Staatsfeinde und Deutschlands derzeit berühmtester Virologe Christian Drosten erhält Morddrohungen von Nazis und Verschwörungstheoretikern.
Noch bevor Deutschland über Schutzmaßnahmen nachdachte, zogen „panische Panzerknackerbanden“ durch Kliniken und Pflegeheime, um massenhaft medizinische Schutzmasken und Desinfektionsmittel zu stehlen. Es war cool, ein Vorreiter zu sein und eine Maske zu tragen. Vor ca. einer Woche hat man die Maskenpflicht in Bus und Bahn und beim Einkaufen eingeführt. In der Egomanen-Gesellschaft, in der wir gerade leben, ist Teilen ein sehr großes Problem. Da medizinische Masken rar sind, reicht eine normale Gesichtsbedeckung durch einen Schal oder eine Stoffmaske. Diese schützt jedoch nicht den Träger.
Das ist das Problem. Jeder möchte sich selbst schützen, andere sind egal. Überall hört man Stimmen die behaupten, die Maske, sei nutzlos, manchmal sogar gefährlich und störe im Gesicht. Sicher, es ist ungewohnt, doch trotzdem ist es nur eine Gewöhnungssache. In Ländern auf dem asiatischen Kontinent ist die Maske aus dem Alltagsbild schon seit Jahren nicht mehr wegzudenken. Diese Länder zeigen, dass es geht, dort beschwert sich niemand.
Erinnerst Du Dich, liebes Ich in der Zukunft: Vor unzähligen Jahren musstest Du Dich damit arrangieren, Tag und Nacht eine Maske zu tragen. Keine Maske, die aus einem Stück Stoff besteht – Du trägst seit Jahren eine harte Maske aus Plastik im Gesicht. Eine Maske die nicht nur Krankheitserreger von Dir fernhält, sondern eine, die Dir vorgibt, wie du zu atmen hast. Mehrere Jahre hast Du gebraucht, um Dich daran zu gewöhnen und Dich darauf einzulassen. So ein Stück Stoff, darüber kannst Du nur lachen, zumindest wenn Deine Muskeln jetzt noch in der Lage dazu sind.
Ich wüsste sehr gerne, wie es nun bei Dir aussieht. Wie sich die Gesellschaft über die Jahre verändert hat. Wie sieht es aus, mit den Rechten für Menschen mit Behinderung? Ist die UN-Behindertenrechtskonvention jetzt auch in Deutschland umgesetzt oder gibt es immer noch Probleme? Gibt es diese Vereinbarung überhaupt noch? Oder lebst du wieder in einer Gesellschaft voller Stigmata, Ablehnung oder vielleicht sogar Aussonderung?
Ich beobachte die Entwicklungen meiner Zeit genau und die Tendenz ging schon vor der Corona-Pandemie in Richtung Aussonderung. Der Gesundheitsminister hat Pläne, dass alle Menschen, die auf Intensivpflege angewiesen sind, nur noch in speziellen Einrichtungen gepflegt werden dürfen.
Jetzt, in der Zeit, in der ich diesen Brief schreibe, lebe ich noch selbstbestimmt mit Assistenz in meiner eigenen Wohnung. Dies könnte schon in weniger als einem Jahr Geschichte sein. Gerade jetzt, wo ein neuartiges Virus in Pflegeheimen und anderen Gemeinschaftseinrichtungen regelrechte Begräbnispartys „feiert“, entscheidet ein Bankkaufmann, der durch Zufall Gesundheitsminister wurde, dass noch mehr Leute dort versorgt werden sollen. Niemand weiß, ob dieses Gesetz, das bis dato ein Kabinettsentwurf ist, im Bundestag gebilligt wird. Aktuell finden die Verhandlungen dort nur mit wenigen Anwesenden statt.
Eine richtige Debatte wird wohl nicht entstehen können. Wir dürfen nicht einmal demonstrieren. Unser gesunder Menschenverstand warnt uns, denn das Virus demonstriert mit. Nur das Internet ist ein Sprachrohr, mit dem wir auf unsere Anliegen aufmerksam machen können. Ein Sprachrohr, auf dem man uns einfach blockieren und stumm schalten kann, sobald wir lästig werden. Ein Sprachrohr, dass unsere Botschaften immer nur in unserer eigenen Filterblase verteilt, und in dem der Algorithmus bestimmt, wer mein Posting sieht und wer nicht.
Nur Du weißt, ob dieses Gesetz in der Zukunft beschlossen wurde und ob wir danach unser Recht auf Selbstbestimmung erfolgreich einklagen konnten. Was gäbe ich dafür, wenn Du mir diese, nur diese eine Frage beantworten könntest …
Das ist die Welt, in der ich lebe, die Welt, in der Du gelebt hast. Erkennst Du sie wieder? Kannst Du sie vielleicht sogar noch fühlen, meine Ängste, meine Befürchtungen und vielleicht auch das bisschen Hoffnung? Ich möchte, dass Du mich nicht vergisst, auch wenn ich schon lang Geschichte bin.
In Liebe,
dein Ich aus der Vergangenheit
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