Was eine Steinofen-Pizza mit Martin Luther King und Joseph Stalin zu tun hat. Ein Impuls über unseren nie endenden Wunsch nach „Mehr” und die Bereicherung des Teilens.
Es ist eindeutig, dass mein Sitznachbar mehr auf seinem Teller hat. Natürlich spreche ich das nicht aus, und natürlich versuche ich, meinen misstrauischen Blick zu vertuschen. „Hey, das ist ungerecht, der da hat mehr bekommen.“ Solche Ausrufe sind als Kind todernst gemeint.
Als Erwachsener habe ich erkannt, dass sich meine, im Restaurant servierte Steinofen-Pizza, in der Regel nicht wesentlich von der meines Sitznachbarn unterscheidet, und es guter Rat ist, die Ruhe zu bewahren. Ich habe gelernt, jähe Impulse zu unterdrücken und vor allem zu überprüfen. Was aber, wenn der Sitznachbar wirklich mehr auf seinem Teller hat? Und vor allem: Was, wenn es nicht mehr allein um Steinofen-Pizza geht? Sollte ich dann immer noch schweigen?
Gib mir mehr
„Ich will mehr.“ Mehr Urlaub, mehr Essen, mehr Zeit mit meinem Freund oder meiner Freundin. Ich will mehr Schuhe, mehr Bizeps. Mehr Intelligenz, mehr Aufmerksamkeit. Unendlich ist die Liste unserer Wünsche nach „Mehr“. Dass Träume nach „Mehr“ nicht immer schaden, wissen wir spätestens seit Martin Luther King Jr.: „I have a dream.“ – diese Worte stehen für Befreiung und Leben, Hoffnung und Zukunft einer ganzen Generation.
Nicht immer jedoch reihen sich unsere Träume, Wünsche und Bedürfnisse in dieses Erbe ein. Nicht immer geben uns die Dinge, die wir wollen und von denen wir träumen, das Leben, was wir uns von ihnen erhofft hatten.
Als Kind stand ich im Jahr 2007 vor dem ersten Iphone Modell – und nicht nur ich; mit mir stand die ganze Welt auf dem Kopf. Wöchentlich bin ich mit dem Cityroller ins Stadtzentrum gedüst. Ungeachtet aller Zu-, Ein- und Ausfahrten. Ungeachtet aller Kreuzungen und Ampeln entlang des Weges. Mit großen Augen und pulsierendem Herz stand ich dann vor der Auslage beim örtlichen Elektronikhändler.
Ich konnte das Handy sehen, sogar anfassen und ausprobieren. Ich zählte mein Geld und habe verzweifelt nach Wegen gesucht, wie ich es kaufen könnte. Hatte meine Familie nicht ein Sparbuch für mich angelegt? Einige Monate später hatte ich dann zwar nicht das Iphone, aber immerhin einen Ipod in der Hand – 30GB, glänzend polierte Rückseite und ein schniekes Touchdrehrad auf der Vorderseite. Der damals teuerste seiner Art. Ich war der glücklichste Mensch der Stadt. Zuhause stellte ich dann fest, dass man, um auf das Gerät Musik zu spielen, ja auch einen Laptop brauchte. Und außerdem hatte ich ja gar keine Musik. Ich brauchte also mehr.
Salz kitzelt
Was war oder ist es bei Dir? Schuhe, die Dich zur schönsten Frau der Stadt zu machen versprechen? Proteinpulver vielleicht? Sicherlich hast Du dann, ebenso schnell wie ich bei meinem Ipod, feststellen müssen, dass zu dem richtigen Schuh das richtige Kleid gehört, und zum Proteinpulver die Mitgliedschaft im Fitnessstudio. Es ist wie mit Erdnüssen: hat man die Packung erstmal geöffnet und die erste Nuss zerkaut, hat das Salz den Mund gekitzelt. Es folgt die zweite und dritte Nuss, und ehe man sich’s versieht, ist die Packung leer.
Was bei Erdnüssen das Salz bewirkt, ist bei Klamotten die Werbung, die Appetit macht. Aber macht das alles auch satt? Zufrieden? War ich mit dem Ipod ein glücklicherer Mensch? Warst Du mit dem Kleid eine schönere Frau oder mit dem prallen Bizeps ein stärkerer Mann? Unsere Zeit und die Werbung – habe ich den Eindruck – sagen genau das. Und macht damit viel Geld.
Bei so viel Geld, das ich bereits in glück- und effizienzbringende Technologien gesteckt habe, müsste ich mittlerweile Deutschlands glücklichster und effizientester Mann sein. Ich gebe zu, ich möchte das aktuelle Iphone Modell allein aus dem gleichen Grund kaufen, warum ich auch die zweite und dritte Erdnuss wollte – es hat mich einfach gekitzelt. Außerdem wird es wahrscheinlich auch nicht bei dem einen Technik-Gadget bleiben. Nein. Hier noch eins und da noch eins. Immer mehr und mehr.
Das gibt mir zu denken. Und müsstest nicht auch Du, mit Deinen vielen Investitionen in schönmachende Kleidung und anderen Schönheitsprodukte nicht längst die aktuelle Miss Germany sein? Bei so viel Geld, dass Du in stark machendes Proteinpulver investiert hast, müsstest Du nicht auch längst the „strongest man alive“ sein?
Mehr für mich UND Dich
Eine ganz andere Dimension bekommt unsere Lust nach „Mehr“ dort, wo im „Big Business“ die großen Entscheidungen getroffen werden. In Marketing-Abteilungen zum Beispiel. Sage ich meinen Kunden, dass sie aufgrund von Corona länger als üblich auf ihre Ware warten müssen und nehme damit in Kauf, dass sie zur Konkurrenz wechseln? Oder sage ich nichts, vertröste die wartenden Kunden mit trügerischen Ausreden und weiß den Gewinn auf meiner Seite? Wir sehen daran: Bei der Frage nach „Mehr“ kann es um Steinofen-Pizza gehen, tatsächlich aber auch um sehr viel Existenzielleres.
Ebenso geht es dabei nie nur um mich allein, sondern immer auch um andere. Mein unstillbarer Hunger nach mehr wird zu einem realem Hunger für andere. Andere Menschen bezahlen mit armseligen Niedriglöhnen dafür, dass ich die Technologien bekomme, die mein Leben bereichern. Wie die Arbeiter in den illegalen, kongolesischen Minen für Seltene Erden, wo Rohstoffe für unsere Smartphones abgebaut werden. Endkunden wie wir rutschen dadurch auf die gleiche Ebene mit Kolonialbeamten aus dem 18. Jahrhundert, die Produkte aus Sklavenarbeit bezogen haben. Ähnliches gilt für die Textilindustrie, wo vielfach Näherinnen aus Ländern wie Bangladesch den hohen Preis schöner, günstiger Kleidung für europäische Abnehmerinnen bezahlt haben. Darf ich hier noch schweigen? Wie oft war mein „Mehr“ ein „Weniger“ für andere?
Von der Bürgerrechtsbewegung in den USA dürfen wir lernen, dass es Zeiten gibt, in denen wir für das „Mehr“ kämpfen müssen. Sie hat mit friedlichen und gewaltfreien Protest das Angesicht einer Nation verwandelt. Sie hat das unveräußerliche Menschenrecht eingefordert, das einem jedem zusteht und jedem zustehen sollte. Das Recht auf ein Leben in Würde. Gleichwohl darf das Ringen um „Mehr“ niemals ein Kämpfen um das „Alles“ und niemals ein Nehmen „um jeden Preis“ werden. Wir müssen abwägen: Wo macht uns das „Mehr“ reich? Und wo will es uns verführen?
Joseph Stalin kannte seinen Vater vor allem für die Schläge und Unbarmherzigkeit, den Mangel an Liebe, den er über ihn ergoss. Heute erinnern wir uns an Stalin als den großen Revolutionär und Diktator der Sowjetunion, der auf seinem kommunistischen Rachefeldzug nicht minder unbarmherzig um sich geschlagen hat. Es ist nachvollziehbar, dass Stalin als Kind Sicherheit gebraucht hätte. Problematisch wurde es erst, als er sie sich als Erwachsener auf Kosten anderer genommen hat. Oft ist mein Wunsch nach „Mehr“ gerechtfertigt. Aber ist es gerecht wenn mein „Mehr“ zu einem „Weniger“ des Anderen wird?
Recht beschenkt
Es geht nicht um die Frage, ob ich schweigen darf, wenn andere mehr haben als ich. Es geht nicht um die Frage, ob ich schweigen darf, wenn die Pizza meines Nachbarn größer ist als meine. Es geht darum, dass ich teile und mein Schweigen breche, wenn andere weniger haben als ich.
Wenn wir es zu Recht und Gerechtigkeit machen, sich vom „Mehr“ anderer nehmen zu dürfen, dann können wir sicher sein, dass auch uns viel genommen wird. Machen wir es hingegen zu Recht und Gerechtigkeit, dem Wenigen anderer hinzuzutun, dann können wir sicher sein, am Ende des Tages stehen wir alle als Beschenkte da.
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