Nicht jeder, der sich zu einem Freiwilligendienst meldet, hat wirklich eine Idee davon, was sie oder ihn erwartet. Umso spannender, wenn man mit ehrenamtlicher Arbeit überhaupt gar nichts am Hut hat. Mit 18 Jahren reiste ich auf gut Glück zu meinem Freiwilligendienst nach Thailand. Darüber, wie aus dem Ungewohnten Alltag werden kann. Ein Erlebnisbericht.

Der Boden unter meinen Füßen fühlt sich warm und weich an. Ich wackle mit den Zehen und sehe wie die rotbraune Erde dazwischen verschwindet. Mein graues Hemd ist an den drei obersten Knöpfen geöffnet, lockere Shorts gehen mir knapp bis über die Knie. Thailand im September ist vor allem eines: schwül. Regenfälle und Hitze verwandeln das sogenannte Goldene Dreieck im Norden des Landes in eine Waschküche. Der Himmel ist von einer grauen Wolkenschicht bedeckt, was die Sonne allerdings nicht daran hindert, mir einen knallroten Teint zu verpassen. Von meinen Füßen blicke ich nach vorne. Zartgrün schimmern Millionen junger Reispflanzen auf einer großen wasserbedeckten Ebene, die durch Erdwälle in quadratische Muster unterteilt ist. In ihr spiegeln sich die grauen Wolkenschemen am Himmel und die gar nicht so weit entfernt liegenden, vom Dschungel bewachsenen Berge. Mitten in diesem Panorama stehe ich barfuß auf einem der Erdwälle, meine Flip Flops in der einen Hand und eine Fotokamera in der anderen. Heute ist Sonntag und das bedeutet, dass ich frei habe. Frei von einer Arbeit, zu der ich mich gar nicht aus Überzeugung oder hilfsbereitem Ehrgeiz gemeldet habe. Über eine deutsche Partnerorganisation hatte ich mich zu einem halbjährigen Freiwilligendienst in einem Kinderheim nahe der nordthailändischen Stadt Chiang Rai verpflichtet. Meine offizielle Aufgabe lautet: die Betreuung Minderjähriger aus schwierigen sozialen Milieus. Bei diesem Gedanken muss ich schmunzeln.
Lehrer wider Willen
Der erste Kontakt an meinem Arbeitsplatz war wohl für alle Beteiligten so etwas wie die Begegnung mit der Dritten Art. Das El Shadai Kinderheim liegt in einer kleinen Siedlung der sogenannten La^Hu, einer ethnischen Minderheit in diesem Land, zu der die meisten der Heimkinder zählen. Darunter auch unerwünschter verstoßener Nachwuchs von Prostituierten und verarmten Familien. Als ich zum ersten Mal am geflochtenen Eingangstor des El Shadai stand, waren alle Anwesenden erst einmal ratlos. Zwar wusste man, dass da ein Farang, ein Ausländer kommen würde, jedoch nicht, wann und wohl auch nicht so recht, wofür. Man lud mich zu einem Glas kühlen Wasser und frischen Früchten ein. Die Kommunikation scheiterte grandios: Weder sprach irgendjemand Englisch noch konnte ich nennenswerte Thaikenntnisse vorweisen. Das Einzige, was ich unter dem Gebrauch von Zeichensprache verstand, war, dass der Direktor des Heims nicht da war. Bis zu dessen Ankunft gab es nichts zu tun und so waren es die Kinder, die mich in einen kleinen Raum führten und in Kennlernspiele einwiesen. Die endeten meistens damit, dass ich eine zusammengerollte Zeitung auf den Kopf geknallt bekam. Mein Talent innerhalb von Minuten, Namen zu vergessen, machte sich – sehr zum Vergnügen der Kinder – bezahlt.
Erst als der Direktor am Nachmittag das Heim erreichte, konnten die wichtigsten Punkte zu meiner Arbeit geklärt werden. Wie ich erfuhr, war ich der erste Freiwillige in diesem Dorf; was mir insoweit entgegen kam, als dass noch niemand die Messlatte gelegt hatte. Außerdem benötigten die Kinder gar keine Betreuung, denn beschäftigen könnten die sich auch alleine. Stattdessen bat man mich darum, ihnen jeden Tag eine Stunde lang Englischunterricht zu geben. Bei der Gelegenheit erfuhr ich auch, dass es in der Nähe ein zweites Heim gäbe, das sehr gerne meinen Unterricht in Anspruch nimmt. Mir kann das Recht sein, da ich in der Vergangenheit so gut wie nie mit Kindern zu tun hatte. Dieser Freiwilligendienst war für nicht mehr als eine Gelegenheit, einfach mal raus aus Deutschland zu kommen. Die angebotene Arbeit als Lehrer ließ mir die Illusion, ich könne eine gewisse emotionale Distanz zu den Kindern wahren.
Hindernisse
Der Unterricht gestaltete sich in den folgenden Wochen sehr simpel. Wenn die Kinder nachmittags aus der Schule kamen, hatten sie Zeit, um sich zu waschen und eine Kleinigkeit zu essen. Dann kam meine Stunde, im wahrsten Sinne des Wortes. Wie sich herausstellte, fehlt vielen sogar das einfachste Vokabular, obwohl sie Englischunterricht in ihrer Schule erhalten. Ich konzentriere mich daher auf Wörter aus der Natur, der Familie und dem Hausstand. Und bereits dort offenbaren sich kulturelle Unterschiede. Eine Toilette auf der man gerade sitzt? Aus Sicht der Kinder eine unpraktische Erfindung, bei der nur der Darm gequetscht wird. Und das Familienfoto mit nur einem Elternteil? Eigentlich das Furchtbarste, was in einer konservativen Gesellschaft passieren kann. Da meine Klasse sehr überschaubar ist, ging ich bald zu PowerPoint Präsentationen auf meinem Laptop über. Nachdem bereits in der ersten Stunde die jüngeren Kinder Konzentrationsschwierigkeiten zeigten, versuchte ich Spiele für zwischendurch einzuplanen, außerdem witzige Filmsequenzen als Belohnung wenn das Ausfragen der Vokabeln gut verlief und vor allem ungewöhnliche Themen, die wir behandeln. Tatsächlich kann ich mit Aufnahmen von Polarlichtern, fluoreszierendem Plankton und Weihnachtsmärkten in Schneelandschaften Erfolge verbuchen. Das Staunen in den Gesichtern meiner Schüler hat sich in meinem Kopf eingebrannt und wurde mein ganz persönliches Ziel. Mittlerweile übernehme ich im El Shadai Heim auch Betreuungsaufgaben wahr, etwa wenn die Kinder Hausaufgaben machen oder Ausflüge zum Fischen oder in die Berge unternehmen.
Während ich unter dem Dach des El Shadai als Englischlehrer wider Willen aufging, bot mir das zweite Kinderheim, in dem ich auf Bitten des Heimleiters viermal in der Woche aufkreuze, ganz andere Hindernisse. Das Durchschnittsalter hier beträgt 16 Jahre und die meisten haben abends offenbar Besseres zu tun, als mir in englischer Grammatik zu folgen. In meinen ersten Stunden fehlte schon ein Drittel der Klasse – vor allem die jüngeren brachten es knüppeldick – und es wurde ungefragt laut geredet. Dazwischen provokante Blicke, was dieser Farang hier eigentlich will. Mehr als einmal musste ich tief durchatmen. Immerhin bat man mich jedes Mal zum Abendessen zu bleiben und weiß der Geier wie, es wuchs tatsächlich Vertrauen, das bei manchen Jugendlichen sogar in einer Freundschaft mündete. Mittlerweile sitze ich gerne abends mit ihnen am Feuer, wo ich von Deutschland und bei großer Nachfrage auch über die Beziehungen meiner Altersgenossen in der Heimat erzähle. Im Gegenzug erhalte ich Einblicke in den Alltag meiner Schüler und lerne einige Brocken ihrer jeweiligen Stammessprachen. War die Freundschaft mit den älteren erst einmal besiegelt, tauchten die jüngeren auch wieder in meinem Unterricht auf; manche nörgelnd, aber wenigstens ruhig, sobald sie einen strafenden Blick von meinen neuen Verbündeten erhielten. An manchen Tagen komme ich auch gerne vorbei, um mit einigen Jugendlichen Fußball zu spielen, oder sich unter jungen Männern im Schatten eines Tamarindenbaumes im Kickboxen zu messen.
Vom Fremden zum Vertrauten
Ein Geräusch holt mich aus den Gedanken. Die Wärme an meinen Füßen dringt wieder in mein Bewusstsein. Ich blicke mich um. Ein sanftes Rauschen dringt von der Ferne und kühler Wind zieht auf. Mit verkniffenen Augen starre ich in das grelle Licht in Richtung der Berge. Ein dunkelgrauer Schleier bewegt sich von dort über die Ebene und direkt auf mich zu. Ich muss grinsen, denn mittlerweile könnte ich die Uhr nach den Regenfällen stellen. Während ich barfuß auf den Erdwällen zwischen Reisfeldern balanciere, schweifen meine Gedanken wieder ab. Zu diesem Zeitpunkt ist mein Arbeitsbeginn erst knapp zwei Monate her, aber die ersten Veränderungen machen sich bereits bemerkbar. Mir ist nicht mehr egal, was mit den Kindern und Jugendlichen eigentlich passiert. Natürlich testen sie ihre Grenzen an mir aus und manchmal könnte ich sie dafür an die Wand klatschen. Andererseits vermitteln sie mir ein Gefühl der Teilhabe an ihrem Alltag. Fast… Ja, fast wie in einer großen Familie. Vermutlich ein übertriebenes Gefühl, wie es nur von einem Einzelkind kommen kann. Trotzdem macht es etwas mit mir. Die ersten kalten Tropfen zerplatzen auf meinem Kopf. Noch ein Gedanke macht sich bemerkbar. Ich habe meine neuen Schüler bis jetzt nie nach ihren Hintergrundgeschichten gefragt. Für den Moment will ich sie auch gar nicht kennen, denn bislang konnte ich ihnen unvoreingenommen und ohne Mitleid begegnen. Auf Augenhöhe. Vielleicht werden sie mir eines Tages ja davon erzählen. Bis dahin kann ich nur versuchen sie über die verbliebenen Monate zu begleiten und zu unterrichten. In meinem Auftrag als Lehrer wider Willen.
Das El Shadai for hilltribe Kinderheim ist eine private Einrichtung nahe der nordthailändischen Stadt Chiang Rai, welche zurzeit 16 Kinder (darunter mehrere Waisen) im Alter von vier bis 17 Jahren beherbergt und vom Gründer Surasak Klumsomphan und seiner Familie geleitet wird. Den Kindern werden der Zugang zu einer nahen Schule, regelmäßige Mahlzeiten, Kleidung und eine christliche Erziehung ermöglicht. Ebenso bemüht sich das Heim diesen jungen Menschen ein Stück ihrer Kindheit zurück zu geben und sei es nur, dass man ihren Geburtstag zusammen feiert. Da das Heim keine Unterstützung der lokalen Kirchengemeinde erhält, ist es von Privatspenden abhängig und steht fast jedes Jahr vor der Existenzbedrohung. Bis Mitte April leiten eine Freiwilligenkollegin und ich zum dritten Mal in Folge ein Crowdfunding (bei Interesse und weiteren Informationen auf das blau hinterlegte Wort klicken), um das Heim zu unterstützen. Wir möchten Euch bitten, bei Möglichkeit unsere Spendenaktion Freunden und Bekannten mitzuteilen und über eine kleine Spende für die Kinder nachzudenken. Wir garantieren, dass 100 Prozent des Erlöses im Heim ankommen und für die Kinder aufgewendet werden!
Faszinierend und emotional unter die Haut geschrieben. Ça me plaît beaucoup.