„Gleis Drei, Einfahrt ICE nach Rosenheim über München“, tönt es aus den Lautsprechern am Hauptbahnhof in Augsburg. Die Leute steigen aus dem Zug, wickeln sich in ihre Jacken und Mäntel, es ist kalt und trübe. Doch etwas ist heute anders. Bunter. Herzlicher. Wärmer. Rote, blaue und gelbe Schilder mit „Herzlich Willkommen“ und „Gute Fahrt“ begrüßen die Fahrgäste an den Gleisen. Eine Etage tiefer warten heißer Früchtetee, Spekulatius und kleine Schokonikoläuse auf diejenigen, die es nicht ganz so eilig haben. Die Jugendlichen der Fokolarbewegung starten für zwei Stunden ihre Aktion, mit dem Ziel, ein Stück Frieden und Geschwisterlichkeit nach Augsburg zu bringen und den Menschen vorzuleben, wie jeder selbst gerne behandelt werden würde.
Und das kommt bei den Augsburgern gut an: „Die Aktion der jungen Leuten ist so cool, fünf, nein 100 Daumen hoch!“, sagt ein Mann und beißt in seinen Spekulatius. Dann geht er los, um noch ein Päckchen Kekse zu kaufen und zu spenden, damit die Leckereien ja nicht ausgehen. Auch die Jugendlichen freuen sich über die positiven Reaktionen und verschmerzen dafür gerne die Kälte: „Notfalls können wir ja selbst einen Becher Tee trinken und einen Keks essen.“
„Mir sind die Augen und auch das Herz aufgegangen“
Es ist 17.15 Uhr, als auf einmal laute Musik erklingt. Aus allen Richtungen strömen Jugendliche auf den kleinen Platz und tanzen eine Choreographie auf „The Flood“ von Take That. Nachdem die insgesamt achtzehn Aktionen beendet sind, wollen die Teenager noch einmal auf sich aufmerksam machen. Als die Musik endet, brechen alle in Jubel über den gelungenen Nachmittag aus.
Die Fokolarbewegung (von ital. focolare = Feuerstelle, symbolisiert Wärme und Licht) wurde 1943 in Trient, in den Zeiten des Zweiten Weltkrieges gegründet. Durch die Visionen einer jungen Frau erlebten viele einen neuen Aufbruch der katholischen Kirche. Chiara Lubich beschloss mit 23 Jahren, ihr Leben Gott ganz zur Verfügung zu stellen. Es schlossen sich ihr weitere Frauen an und zusammen lebten sie nach ihrem selbsterwählten Ideal: Gott ist die Liebe. Chiara zog mit ihnen 1944 in eine kleine Wohnung auf der Piazza Cappuccini, das erste Fokolar war gegründet. Heute gibt es weltweit 141.100 Mitglieder der Fokolar-Bewegung, davon knapp 5.000 in Deutschland.
Um sich einen Überblick über die Aktion zu verschaffen, ist die Stadträtin Sieglinde Wisniewski vorbeigekommen, stellvertretend für den Oberbürgermeister. Sie ist begeistert vom Engagement, das die Jugendlichen gezeigt haben: „Als ich hier auf den Platz kam, sind mir zuerst die Augen und dann das Herz aufgegangen. Ich bin überrascht, wie viele ihr seid.“ Und auch eine Botschaft hat sie dabei: „Von Eurem Engagement und Euren Erfahrungen können wir in Augsburg nur profitieren und lernen. Bleibt dabei, engagiert euch weiter, denn früher oder später wird Eure Arbeit anerkannt und gehört werden.“
Das tut auch Ihnen
„Entschuldigung, wir machen gerade eine Straßenumfrage zum Thema Nachbarschaft. Haben Sie kurz Zeit? – „Oh, wir nur sprechen Italienisch.“ – „No problema.“ Zum Glück ist Carlo unter den Jugendlichen. Seine Großeltern sind von Italien nach Deutschland ausgewandert, deswegen spricht er die Sprache fließend. Kurzerhand übersetzt er den Fragebogen ins Italienische. Die fünf italienischen Freunde sind begeistert und beantworten gerne die Fragen. Auch das Thema Geschwisterlichkeit wird in der Fokolarbewegung groß geschrieben. Um die Leute zum Nachdenken anzuregen, gehen verschiedene Gruppen mit jeweils drei bis vier Jugendlichen durch die Fußgängerzone und die Altstadt und führen eine Passantenbefragung durch. Das Ziel ist es nicht etwa eine Statistik zu erheben, sondern einfach mit den Leuten über Nachbarn und Nachbarschaft ins Gespräch zu kommen. „Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie haben gerade einen Kuchenteig gemacht, aber jetzt ist der Ofen kaputt. Gehen Sie zu einem Nachbarn und backen ihn da?“ Zunächst sind die Leute skeptisch, aber die, die sich darauf einlassen, denken ernsthaft nach.
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