Dieser Zusatzartikel zu meiner Bindungsserie behandelt die Beziehungsdynamik zwischen einem ängstlichen und einem vermeidenden Bindungstypen. Aus eigenen Erfahrungen schildere ich dir hier, wie sich eine solche Beziehung darstellt.
Der ängstliche Bindungstyp, welcher zumeist auf das weibliche Geschlecht verteilt ist, und ein männlicher vermeidender Bindungstyp leben eine rasante Beziehungsdynamik, welche meist in Dramen und On-Off-Beziehungen mündet. Ein Zufall oder eher eine Lernaufgabe für beide Beziehungstypen? Ich möchte dir hier meine persönliche Sicht schildern, denn auch ich steckte diverse Male in meinem Leben in solchen Beziehungen und habe erst jetzt die Dynamik dahinter verstanden. In diesem Artikel möchte ich dich an meinen Erkenntnissen und Erfahrungen teilhaben lassen.
Auflösung der unsicher-ambivalenten Verhaltensstruktur des ängstlichen Bindungstypen möglich?
Alle Bindungstypen haben ein individuelles Bindungssystem, nach welchem sie (unbewusst) agieren. Ein ängstlicher Bindungstyp, der eher unter einem verminderten Selbstwert leidet, sucht vermehrt Nähe und Sicherheit im Beziehungspartner. Der vermeidende Bindungstyp ist autonom und gibt zwischenmenschlichen Beziehungen eher einen geringeren (Stellen-)Wert in seinem Leben. Dass diese Konstellation so häufig ist, ist kein jedoch Zufall. Angezogen von der Unabhängigkeit des vermeidenden Partners und einem gewissen Grad an Bewunderung für dessen Lebensstil steht der ängstliche seinem vermeidenden Partner gegenüber und sucht dort unbewusst die Anteile, die ihm selbst fehlen. Allerdings triggert der vermeidende Bindungstyp durch seine diversen Verhaltensweisen alle wunden Punkte und verursacht in den meisten Fällen emotionale Ausbrüche. Nachfolgend eine Konstellation aus eigener Erfahrung. Der Einfachheit halber nennen wir den ängstlichen Bindungstypen im folgenden „A“ und den Vermeidenden „V“.
Der ängstliche Bindungstyp verfügt über ein sehr sensibles Bindungssystem
A lernt V kennen. V ist ein vermeintlich unabhängiger Mann, der mit beiden Beinen fest im Leben steht, erfolgreich im Beruf ist, vielleicht sogar selbstständig. Er lebt sein Leben mit allerhand Hobbys , ohne gedanklich an anderen Menschen anzuhaften.
A ist selbstbewusst und unabhängig, doch sobald sie in einer Beziehung ist, verändert sich ihr Verhalten schlagartig. Ihre Aufmerksamkeit richtet sie nun komplett auf V aus und benötigt immer wieder – um ihr fragiles Selbstwert bestätigt zu wissen – „Liebesbeweise“ durch V. Da es für V jedoch vollkommen ausreichend ist, alle paar Tage eine schöne Zeit zu verbringen und keinerlei Verpflichtungen aus seiner Sicht notwendig sind , beginnt A ständig zu prüfen, ob V auch wirklich „verfügbar“ ist. Zudem verfügt A über eine sehr sensible Auffassung und bemerkt jeglichen Rückzug seitens V sofort. Ihr Bindungssystem ist in Alarmbereitschaft und sie versucht, die emotionale Bindung wiederherzustellen – manchmal mit fragwürdigen und manipulativen Vorgehensweisen.
Insgesamt verhält A sich unsicher und verfällt in eine Art Unterwerfung dem Partner gegenüber. Ihre Bedürfnisse stellt sie komplett zurück und ist sehr bemüht, V´s Bedürfnisse und Wünsche adäquat und komplett zu stillen. A hat den unbewussten Glaubenssatz, dass sie geliebt wird, wenn sie es V recht macht.
Der unsicher-vermeidende Bindungstyp hält Bindung und Nähe nicht lange aus
V genießt es, die ungeteilte Aufmerksamkeit von A zu erhalten. Doch lange hält er diese Aufmerksamkeit und Liebe nicht aus, da er sich zunehmend bedrängt und erstickt fühlt. Auch wenn er sich insgeheim eine Bindung wünscht, schafft er es nicht, diese für längere Zeit aufrecht zu erhalten. So mündet diese Begegnung wieder im Rückzug. Charakteristisch für V ist auch, dass er A nur ein Dasein am Rande seines Lebens geduldet und sie komplett aus seinen persönlichen Angelegenheiten herausgehalten hat. So wird er nun auf Abstand gehen und sich emotional, gedanklich und räumlich von A distanzieren. Hier wird sein Bindungssystem aktiviert: Nähe ist bedrohlich und er hält diese auch nicht in einem derart ausgeprägten Maße aus, wie A es gerne leben würde.
Das Protestverhalten des ängstlichen Bindungstypen lässt die Situation eskalieren
Durch die Distanzierung von V wird nun auch das Bindungssystem von A aktiviert. Die Unsicherheit bahnt sich ihren Weg an die Oberfläche und kann vermeintlich erst wieder durch eine Reaktion vom Partner (V) gestillt und beruhigt werden. Dies ist auch der Fall, wenn zum Beispiel . A am Vorabend eine Whatsapp verschickt hat, keine Antwort seitens V erhalten hat und in eine Unruhe verfällt, weil sie nicht weiß, was V gerade tut und ob sie sich seiner Liebe noch sicher sein kann. Kommt die erlösende Antwort seitens V, dann beruhigt sich das Bindungssystem von A und die Situation ist de-eskaliert. Falls dies nicht geschieht, verfällt A in ein Protestverhalten, was zuweilen in einer Eskalation endet. Ein Beziehungsabbruch ist nah.
Die On-Off-Dramatik nimmt ihren Lauf
V kann die Reaktion von A nur mäßig bis gar nicht nachvollziehen und fühlt sich von diesem Protestverhalten eher erdrückt und in seinen unbewussten Glaubenssätzen bestätigt. Für ihn sei es besser, einen Partner nicht sehr nah an sich und sein Leben ranzulassen. Sein Bindungssystem deaktiviert sich nun ebenfalls und er reagiert mit Flucht. So entsteht nun eine Beziehungsdynamik, die eher einem Katz- und Maus-Spiel gleicht als einer gesunden Beziehung, welche auf Augenhöhe basiert. Haben sich beide Bindungssysteme dann nach einer gewissen Zeit beruhigt und beide Partner sind wieder bei sich selbst angekommen, kommt es vor, dass wieder eine Annäherung stattfindet.
Paar-Therapie oder Trennung?
Im Grunde sind beide Partner unsicher in Ihren Verhaltensweisen und nicht fähig, eine funktionierende Beziehung in DIESER Beziehungskonstellation zu führen, wenn hier keine Bewusstwerdung der jeweiligen Bindungssysteme stattfindet. Die Bedürfnisse beider Partner gehen in sehr unterschiedliche Richtungen und es ist schwierig, auf eine gemeinsame funktionierende Ebene zu kommen. Denn einer von beiden muss in dieser Beziehung immens zurückstecken und zumeist ist es der ängstliche Beziehungstyp, der aufgrund seiner Konstitution mehr leidet als der vermeidende Bindungstyp. Hier hilft wohl nur eine Paar-Therapie und viel Verständnis und Entgegenkommen beider Partner, um diese Beziehung zu retten. Sollte nur eine einseitige Bereitschaft vorherrschen, um an dieser Partnerschaft zu arbeiten, ist eine Trennung die einzig logische Schlussfolgerung im Sinne der Erhaltung der Selbstliebe.
Regina
Herzlichen Dank! Ein toller Artikel – der es auf den Punkt bringt
Reni
Genauso habe ich es erlebt. Wobei ich ängstlich durch V geworden bin. Im Nachhinein betrachtet ist es genauso abgelaufen.
Matthias
Herzlichen Dank für den Artikel. Nach über 30 Jahren ist mir die Beziehungsdynamik meiner ersten großen Liebe klargeworden, die in einem unheimlichen Schmerz endete. Im Verlauf dieser Beziehung wurde ich immer ängstlicher durch die wechselnde Distanz/Nähe Problematik und zuletzt durch den eher narzisstisch vermeidenden Partner heiß bzw. kalt entsorgt.
Insignis
V hat gerade die Flucht ergriffen, klassisch nach Lehrbuch, die Beziehung beendet. Ich habe die Dynamik schon länger erkannt und mir war bewusst, dass der erste Konflikt dies wahrscheinlich auslösen wird. Ich möchte kein A werden.
Annika
V ist nach 2,5 Jahren On Off Dynamik endgültig, eiskalt abgehauen. Seit fast 4 Monaten habe ich ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen, er verweigert den persönlichen Kontakt, um seiner Selbstbestimmtheit nachgehen zu können bzw. sich zu schützen wie er sagt. Er betont, dass es ihm damit besser ginge. Ich, A., bin subtil und ohne Gespräch wie Müll entsorgt worden. Er habe mit der Beziehung abgeschlossen im Juli, im Juni ging es ihm noch schlecht. Er gewährte mir in den 4 Monaten ohne Treffen ein paar wenige WhatsApp Nachrichten, um mir all dies mitzuteilen. Was mit mir war und ist, hat ihn nie wieder interessiert. In seinen Augen habe ich mich falsch verhalten und dies sei nun die Konsequenz für mich. Damit müsse ich nun leben. Eine derart grausame Trennung habe ich noch nie erlebt. A beschreibt mich in dem Text zu 90 %. Ich bin bis heute sehr traurig und vermisse V. Ich habe allerdings diese beziehungsdynamik nachträglich komplett verstanden. In der Beziehung waren die Verhaltensweisen oft diffus in meiner Wahrnehmung. Einsamkeit und Traurigkeit prägte die Beziehung mit V.
Aria
Wahnsinn. Ich stecke genau in so einer Beziehung. Nur sind wir beide gewillt eine Paarberatung in Angriff zu nehmen. Es ist wirklich schade, dass es so kompliziert ist trotz aufrichtiger Gefühle. Wir sprechen allerdings offen darüber und haben unsere Defizite erkannt.