Eine Begegnung im Zug gab mir einen neuen Blickwinkel auf die aktuelle Sicherheitsdebatte im Zusammenhang mit der Integration von Geflüchteten. Das Zusammenleben in Deutschland steht vor einer Bewährungsprobe, die klare Regeln und Mut erfordert. Die Frage ist, was wir bereit sind, für die vermeintliche Sicherheit aufzugeben.
Ich saß in einem völlig überfüllten ICE auf der Rückfahrt eines Seminars, war müde und hatte mir mit Mühe und Not einen Sitzplatz erkämpft. Gerade nahm ich mein Buch über Syriens Machthaber Baschar Al-Assad heraus und war dabei, mir die Ohren mit meinem MP3-Player zuzustöpseln, um die streitende fränkische Familie vor mir auszublenden. Da sprach mich meine Sitznachbarin an, was ich denn lese. Schnell entwickelte sich ein Gespräch über Syrien, das über zwei Stunden dauern sollte. Bis ich trotz gültiger Fahrkarte den Zug verlassen musste. Notiz an mich: Wer mit Sparticket ohne Sitzplatzreservierung fährt, hat kein garantiertes Bleiberecht im Zug.
„Da muss ich was tun“: Courage begegnet Angst
Meine Nachbarin war Lehrerin für Deutsch und Kunst. Als die ersten Züge mit Geflüchteten in ihrem kleinen Ort nahe Augsburg ankamen, meldete sie sich, um Deutschkurse zu geben.
„Da muss ich was tun“.
Dieser Satz kam so völlig ungekünstelt und überzeugt aus ihrem Mund, dass er mir im Gedächtnis blieb. Es lag darin mehr Kraft und Überzeugung als in Reden aus der Politik mit der täglichen Floskel:
„Wir schaffen das“.
Zu Beginn war es noch keine leere und müde Floskel gewesen, als Menschen in München die Geflüchteten mit Stofftieren und Keksen willkommen hießen. Ist seitdem wirklich erst ein Jahr vergangen? Mir scheint, als befände sich Deutschland momentan in einem abwartenden Sicherheitsabstand, ja wenn nicht sogar im Zustand des Zurückweichens vor der ersten Bereitwilligkeit. Es ist nicht so einfach wie wir dachten, Menschen aus fremden Kulturen aufzunehmen und mit ihnen zusammenzuleben. Letztendlich verwundert es daher nicht, dass Überforderung und Fremdheit langsam klare Formen annehmen. Die Angst vor Terror des IS, vor Vergewaltigungen wie in Köln, Attentaten und einer schleichenden Islamisierung, wächst. Bundeskanzlerin Angela Merkel wirkt müde und scheint mit ihrem „wir schaffen das“ eher nur noch dem wachsenden medialen Druck und der Unmut der Bürger nicht mehr viel zu bieten zu haben. In diesen Umständen kam das überzeugte „da muss ich was tun“ beinahe naiv herüber. Eine Lehrerin, die meint, die Welt lasse sich mit Nettigkeit ändern und nur integrationswillige Geflüchtete passieren die Grenze?
Von der Zustimmung ins Klima der Angst
Auf den ersten Blick mag man den Kritikern der Integration Recht geben, die darin Naivität sehen und strengere Regeln fordern. Ja, die Sicherheitslage hat sich verschlechtert und auch Terroristen können unsere Grenzen frei passieren, doch damit ist Deutschland nicht das einzige Land. Der Politik gelingt es nicht, die Ängste der Bürger einzufangen, sondern diese werden eher noch geschürt. Und zwar indem beispielsweise Debatten stattfinden, inwieweit die Burka ein Sicherheitsrisiko darstellt und Loyalitätsbekundungen ausländischer Mitbürger gefordert werden. Von Neonazis fordert man dies auch nicht, weil es schlichtweg nichts bringt, Loyalität, die nicht besteht, öffentlich zu bekunden. Wer sie hat, braucht sie auch nicht mündlich bestätigen.
Ebenso ist der Zeitpunkt des zivilen Sicherheitskonzepts mehr als unglücklich, welches unter anderem eine Wiedereinführung der Wehrpflicht andeutet. Stimmen warnen zu Recht vor einer Militarisierung der Gesellschaft. Kann das die Antwort auf Angst und Unruhe sein? Es erinnert eher an die Maßnahmen der Regierung Bush nach dem 11. September 2001, die etwa der Kampagne „be ready“ Hinweise zum Schutz vor Biowaffen gab. Teile der Politik und der Medien kreieren gerade ein Klima der Angst. Noch kann es abgewendet werden. Wenn die Angst nicht siegt und ihr etwas entgegensteht: Der Wert der Freiheit, die Sicherheit nicht erreicht, indem Bürger die doppelte Staatsbürgerschaft abgeben müssen. Das meint nicht, alles stillschweigend hinzunehmen und falsch verstandene Toleranz für eine heile Welt zu üben. Anstatt uns panisch abzuschotten, braucht es eine öffentliche Debatte, um klare Regeln des neuen Miteinanders zu erarbeiten. Nur durch eine kritische Auseinandersetzung mit Hemmnissen und Konfliktpunkten kann die Integration gelingen. Auseinandersetzung bedeutet auch, dem Fremden zu begegnen und zu merken, dass auch der Andere „nur“ ein Mensch ist. Ein Mensch, mit dem man sogar zusammenleben kann.
Kulturen unter einem Dach: Wenn der Syrier Knödel mag und die Deutsche Al Jazeera sieht
Meine Zugnachbarin wagte den Schritt und sprach nicht von Angst, sondern von Neugierde. Sie erzählte mir, wie sie in ihrem Deutschkurs auf einen jungen Syrer aufmerksam geworden war. Da ihre Kinder bereits berufstätig waren, entschloss sie kurzerhand, ihn aufzunehmen. Seit eineinhalb Jahren wohnt er nun bei ihr und anfangs war es nicht einfach, sich daran zu gewöhnen. Sie aß nicht mehr täglich Fleisch oder diskutierte mit ihm, warum deutsche Frauen nicht unbedingt beziehungswillig sind, wenn sie im Bikini im Freibad liegen. Sie versuchte den Ramadan zu halten und scheiterte kläglich. In ihren Schilderungen fand ich keinen dogmatischen Anspruch, dem anderen die eigenen Gewohnheiten aufzuzwingen im Glauben, das Eigene sei besser. Doch beide mussten einige Anschauungen überdenken. Nächtelang diskutierten sie und manchmal durchaus hitzig, wenn es um Sexualität und Religion ging. Sie lernte syrisch zu kochen und sieht nun manchmal Al Jazeera, er liebt bayerische Knödel und versucht die deutschen Lebensgewohnheiten zu verstehen. Irgendwo in der Mitte bildet sich in dieser WG etwas, wo jeder ein wenig vom eigenen abrücken muss. Als sie mir alles schilderte, da wirkte sie oft nachdenklich, aber zwischendrin brach auch immer wieder ein Strahlen durch.
Wie ist das Leben in einem Regime?
Für uns mag es unvorstellbar sein, dass der Geflüchtete das Leben in Aleppo manchmal vermisst. Sein Bruder studiert noch Medizin in Damaskus und auch sein Vater ging wieder zurück in die Stadt – eine Stadt auf die Fassboden und Chemiewaffen fallen. Er konnte nicht ruhig in Deutschland bleiben, während die kämpfenden Truppen die Maschinen seines Baugeschäfts in Beschlag nahmen. Seinen Stolz, das Familienunternehmen, wollte er nicht aufgeben. Denn wer nicht da ist, der wird enteignet und alles Hab und Gut von der Regierung beschlagnahmt. Zudem sei es in ihrem Stadtteil relativ sicher zu leben. Der Geflüchtete sucht in dem kleinen Örtchen nahe Augsburg vergebens das Leben wie in den pulsierenden Vierteln seiner Heimat. Dort ging er mit Freunden abends aus und hatte Spaß. Die Frauen entschieden frei, ob sie Schleier trugen oder nicht. Relativ bald aber nach der Machtübernahme Baschar Al-Assads war auch er mit den Grenzen in Berührung gekommen. Auf der Straße von einer Polizeikontrolle angehalten, hatte er gerade noch Zeit, die Speicherkarte seines Handys zu verschlucken, die regierungskritische Lieder enthielt. Dennoch verbrachte er grundlos drei Wochen im Gefängnis in Damaskus zu, bis ihn ein Verwandter freikaufte. Er hatte Glück, später wurden viele gefoltert und einige verließen das Gefängnis nicht mehr lebend. Auf die Frage, wie ein Leben in einem derartigen Regime denkbar sei, hatte ihr Mitbewohner meiner Nachbarin geantwortet: Es war mein Leben, ein Leben in relativer Sicherheit, mit Studium, Familie und Freunden – egal wie brutal es war, so konnten wir doch dort leben.
Ich lernte von der couragierten Aufnahme meiner Nachbarin, die einfach handelte und sich einließ. Muss die andere Kultur also in ihre Schranken verwiesen werden, bevor sie der unseren gefährlich wird? Wir sollten genau überlegen, wohin sich die aktuelle Sicherheitsdebatte bewegt und welche Art von Gesellschaft Deutschland sein will.
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