
„Liebe Frau Schnell*, nach der entscheidenden Sitzung des Aufnahmeausschusses der Studienstiftung kann ich Ihnen heute eine erfreuliche Nachricht geben: Der Ausschuss hat positiv über Ihren Antrag entschieden. Ich freue mich mit Ihnen und gratuliere herzlich. Meinem Brief liegt die offizielle Urkunde über Ihre Förderung durch die Studienstiftung des deutschen Volkes bei.“
Ich halte ihn endlich in den Händen. Den Beweis. Meine offizielle Selbstbestätigung, ausgewiesen von Deutschlands größtem und ältesten unabhängigen Begabtenförderwerk. Hohe intellektuelle Fähigkeiten und Leistungsbereitschaft werden erwartet, um in den Genuss der Förderung zu kommen, außerdem soziale Kompetenz, breite außerfachliche Interessen sowie gesellschaftliches Engagement. Wenn ihr wüsstet, denke ich. Wenn ihr wüsstet, wenn ihr wüsstet.
Ich lechze nach den Worten des Briefes. Ich ertrage sie nicht. Sie stehen auf dem Papier, ich kann sie lesen. Schaue ich in den Spiegel, bleibt von ihnen nichts übrig. Übrig bleibt blanker Hohn. Ich bin ganz oben angekommen, Teil der Elite. Außerdem bin ich seit sieben Wochen Teil der PSM 1, der Wahlleistungsstation für Psychosomatische Medizin und Fachpsychotherapie des Klinikums Christophsbad.
Vor meiner stationären Aufnahme hielt ich es nicht mehr alleine in meiner Wohnung aus, konnte nicht schlafen, nicht mehr essen, nicht mehr lernen. Leistung, Initiative, Verantwortung, welch schöne Fassade. Das Internet diagnostizierte mir eine Angststörung. Ich brauchte nicht lange um zu begreifen, dass ich als einziges Kind wohlhabender, liebender Eltern, aufgewachsen in behüteten Verhältnissen, nicht den Prototypen des Patienten einer psychosomatischen Klinik darstellte.
Auch begriff ich schnell, dass es so einen Prototypen gar nicht gibt. Meine Eltern hatten mir mein Leben lang sämtliche Hindernisse aus dem Weg geräumt, Probleme gelöst und meine Ängste aufgefangen und ausgehalten. Und mich so zu einem unselbstständigen und verängstigten Wesen gemacht, das beständig nach Erfolg und Anerkennung giert. Ein Widerspruch in sich. Ich armes, verwöhntes Einzelkind.
Ich kann meinen Eltern alle Schuld zuweisen. Oder mich selbst dafür hassen, die Liebe meiner Eltern ausgenutzt, ihre Bemühungen mit Füßen getreten zu haben. Was davon ich auch tue, zu der selbstständigen, selbstbewussten jungen Frau, die ich gerne wäre, macht es mich nicht. Nachreifen, nennt mein Therapeut meine Aufgabe. Meine Aufgabe. Mein Leben zu vertreten habe ich selbst. Meine Eltern können mir nicht mehr helfen, weil ja gerade ihre Hilfe mich in die Unselbstständigkeit getrieben hat. Bleiben noch meine Mitpatienten.
Ob ich mein Jurastudium abbrechen soll, möchte ich von ihnen wissen, ob ich umziehen, welche Hobbies ich mir suchen soll. Die gewünschte Lebensanweisung bleibt aus. Freiheit heiße Verantwortung, deswegen werde sie von den meisten Menschen gefürchtet, bekomme ich zu hören. Das soll der dänische Philosoph Søren Kierkegaard gesagt haben. Oder George Bernard Shaw. Google ist sich da nicht ganz so sicher. Außerdem: Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit. Wiederum Kierkegaard. Ich vergleiche mich. Im freien Fall. Helfen werde ich mir dadurch nicht.
Bleibt noch mein Therapeut. Er könne keinen Masterplan für mich ausarbeiten, erklärt er mir. Irgendwas sagt mir, das will er auch gar nicht. Ich bin empört. Habe das Gefühl, ich verschwende meine Zeit, indem ich zum Frühsport gehe, anschließend 15 Erwachsenen erzähle, wie ich geschlafen habe und dann in der Bewegungstherapie auf einem Bein durch den Raum hüpfe. Das teile ich meinem Therapeuten mit, der leider ganz anders reagiert als meine Mama, die sicherlich meiner Bitte gefolgt wäre, in einer anderen Klinik anzurufen, um auszuprobieren, ob mir dort nicht besser geholfen werden kann. Mein Therapeut sagt etwas von kleinen Schritten und vom aushalten müssen. Anstatt über mein Studium zu sprechen, möchte er wissen, ob ich Hefeteig zubereiten kann. Kann ich nicht. Nächste Woche soll ich für alle Pizza backen. Aus Hefeteig.
* Die Autorin des Textes möchte anonym bleiben. Wir haben auf ihren Wunsch hin den Namen geändert.
Danke für den tollen Text. Gerne mehr davon. Und gerne auch länger.
Sehr passend: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/psychodrama-oder-party-der-nachtmahr-von-akiz-im-kino-14254276.html
Niemals aufgeben
Meine Geschichte ist genau dieselbe, nur für Gründe komplett anders. Wie kann ich dir persönlich schreiben, liebe Autorin?
Bitte bitte eine Fortsetzung schreiben. Der Text ist toll – und ich würde wirklich gern wissen, warum und wie die Therapieansätze helfen.
Bei mir die selbe Geschichte. Bin Mitglied im Max-Weber-Programm.
Liebe Frau Schnell,
aus eigener Erfahrung kann ich dir nur sagen: lass dich drauf ein.
Ich habe einen ähnlichen Weg hinter mir. Hochbegabt. Geisteswissenschaftliches Studium. Guter einser Schnitt. Im AStA aktiv etc. Abschluss des Studiums zum greifen nah, noch ein Semester. Dann der Zusammenbruch. Burnout, Depression. Fast ein Jahr lang nur vor mich hinvegetiert. Anfang April griffen die Medikamente, ab Mai in der Psychosomatik in Boppard.
Da sollte ich dann basteln, tonen, Säckchen in die Luft werfen und wieder fangen. Ich habe mich auch gefragt was es soll. Aber ich habe mir gedacht: was solls, lässte dich halt mal drauf ein.
Jetzt kann ich sagen, das war die beste Entscheidung meines Lebens. Die Zeit in der Klinik hat mein Leben und meinen Blick auf mich selbst radikal verändert. Ich habe gelernt mit meinen Ängsten umzugehen und die Gründe erkannt.
Ich bin zwar noch lange nicht geheilt, aber ein Anfang ist gemacht. Der behandelnde Chefarzt n meinte ich hätte noch einen Weg von zwei bis drei Jahren vor mir. Auf den blicke ich jetzt voller Spannung und Vorfreude.
Du schaffst das auch!
Patrick
Zunächst: Hut ab zur Entscheidung darüber zu schreiben. Das Thema wird ja leider immer wieder totgeschwiegen.
Ich will meine Geschichte nicht vergleichbar nennen, da das ja immer wieder sehr persönlich ist. Ich habe allerdings auch einen Klinikaufenthalt hinter mir und öffentlich Tagebuch geschrieben. Hat mir sehr geholfen und vor allem auch geholfen im Umfeld für eine differenzierte Wahrnehmung zu sorgen. Jedenfalls hoffe ich es.
Ich spare mir die “mach weiter” Sprüche, da ich weiß, dass sie nur schwer ankommen, egal wie ernst und herzlich sie gemeint sind. Ich möchte einfach nur meine Achtung aussprechen, dass jemand über so persönliche Erfahrungen schreibt.
Liebe Autorin,
Der Text ist jetzt schon etwas älter, ich habe ihn aber gerade erst entdeckt.
Meine Rahmenbedingungen sind ganz schön ähnlich… Jurastudentin, bin selbst Stipendiatin der Studienstiftung und komme aus ähnlichen Verhältnissen. Für mich waren bei meiner Aufnahme in die stationäre Psychiatrie wegen Depressionen und Borderline 3 Dinge am härtesten zu aktzeptieren:
1. auch wenn meine Probleme anders erscheinen und meine Rahmenbedingungen (intelligent, jung, gesund, wohlhabendes liebevolles Elternhaus) positiv (ich wurde liebevoll Mädchen vom Ponyhof genannt) sind ist es „okey“ das es mir schlecht geht und ich hilfe brauche. Ich „darf mir das rausnehmen“
2. Nein, von hier wird jetzt nicht alles besser weil der Psychiate die Depression nicht „heilen“ kann wie eine Grippe; es sind unendlich schwere viele kleine Schritte und zwar meine. Den Genernotfalldepressionsbehandlungsplan gibt es nicht.
3. nach mehreren Wochen den „Körperwahrnehmungs; Tüchermal; Körbeflecht; Töpfer; Kletter; Musik; Gärtner — Therapien“ eine Chance zu geben und zu akzeptieren das es nicht anders geht…
Wie lange habe ich meinen Therapeut angefleht mich zu verlegen…
Jedenfalls vielen Dank für deinen Text! Du bist nicht alleine.
Ich bin in der Zwischenzeit stolz auf mich und meine Aufnahme in die Studienstiftung.
Ich hoffe du auch!
(Würde auch gern persönlich mit dir schreiben)