Sich vor dem Professor verbeugen, wenn man diesem auf dem Flur der Universität begegnet. Das Wohl der Gruppe individuellen Zielen vorziehen. Harte Arbeit über die persönliche Freizeitgestaltung stellen. Alter als Vorgabe, wie viel Respekt einer Person zusteht. Für westliche Kulturen sind dies oft unverständliche Werte; in Südkorea haben sie ihre Wurzeln im Konfuzianismus, auf dessen Spurensuche wir uns in diesem Artikel begeben.
„Wie alt bist du?“, fragt mich eine koreanische Freundin. „23 Jahre“, erwidere ich, „und du?“. „Genauso alt. Cool, dann können wir befreundet sein!“ Beim ersten Lesen erscheint diese Konversation recht sinnfrei. In Südkorea kommt sie durchaus vor, denn das Alter spielt eine deutlich wichtigere Rolle als in westlichen Kulturen. Bereits der Altersabstand von einem Jahr kann einen starken Unterschied im Umgang miteinander hervorrufen. Obwohl die Vorstellung vor allem in der jungen Generation abnimmt, dass nur exakt Gleichaltrige eine Freundschaft auf Augenhöhe führen können, zählt sie dennoch zu den sozialen Grundregeln der Gesellschaft. Eine Koreanerin erzählte mir, dass sie erst mit mir erlebte, dass Freundschaften mit großem Altersunterschied problemlos funktionieren können. Stark konfuzianistisch ist: Dem Älteren gebührt Respekt. Hierbei kommt es grundsätzlich nicht auf Stand und Erfolg im Leben an, denn der Respekt beruht auf dem Alter selbst. Doch worum geht es denn nun eigentlich im Konfuzianismus?
Wurzeln des Konfuzianismus
Seinen Ursprung findet der Konfuzianismus in China, wo er über 2500 Jahre die zentrale Religion war. Als Überlieferer gilt Konfuzius (551-479 v. Chr.), der in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs und schließlich als Gelehrter einen ganzen Kulturraum prägte. In Korea war der Konfuzianismus spätestens ab 372 n. Chr. vorzufinden und hielt sich bis zum 20. Jahrhundert, als Moderne und Westernisierung ihn abschwächten. Obwohl der Konfuzianismus im gegenwärtigen Südkorea kaum mehr eine aktiv ausgeübte Religion ist, hat er einen maßgeblichen Einfluss auf die Kultur und wird in großen und kleinen Alltags- und Lebenssituationen sichtbar.
Bevor wir in die Gegenwart eintauchen, werfen wir einen Blick auf die ursprüngliche Lehre Konfuzius‘, die sich mit fünf Hauptpunkten grob beschreiben lässt.
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Der wichtigste Wert für Konfuzius findet im Chinesischen die Bezeichnung »jen« (Herzensgüte). Die Würde des Lebens wird geachtet und der Mensch dementsprechend behandelt. Höflichkeit, Selbstlosigkeit und Einfühlungsvermögen sind dabei wichtige Eigenschaften.
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»chun tzu« findet sich bei reifen, ausgeglichenen Menschen, die selbstlos andere in den Mittelpunkt stellen und nicht von ihren Grundsätzen abweichen.
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»li« umfasst das richtige Verhalten. Um ein anständiges Leben führen zu können, ist es wichtig, ein gesundes Maß zu finden (für Philosophieliebhaber: Dieses Prinzip ist vergleichbar mit Aristoteles‘ Leitsatz der goldenen Mitte). Großgeschrieben werden auch Beziehungen, insbesondere die Familie. Außerdem gilt ein grundsätzlicher Respekt gegenüber allen Älteren als Teil des richtigen Verhaltens.
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»te« richtet sich gegen ein tyrannisches Herrschertum. Wer seine Macht ausnutzt, kann eine Gesellschaft weder positiv führen noch das Beste in ihr zum Vorschein bringen.
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»wen« beschreibt die Kunst, die den moralischen Charakter des Menschen schleift.
Konfuzianismus heute
Die Lehre des Konfuzius dreht sich immer wieder um andere Menschen. Eine besondere Stellung erhält die Familie. In der Vergangenheit waren die Bindungen so eng, dass der älteste Sohn auch nach seiner Heirat noch bei den Eltern wohnte und sich um deren Land und Wohl im steigenden Alter kümmerte. Obwohl Korea immer noch eine familiengebundene Kultur ist, wird es längst nicht mehr so strikt gelebt. Auch das Frauenbild entwickelte sich stark. Daran, dass die Frau niedriger und nur in Abhängigkeit zum Mann angesehen wird, ist heute nicht mehr zu denken. Was erhalten blieb, ist der Respekt, den Konfuzius im li beschreibt. Für eine gute Ausbildung ihrer Kinder sorgen die Eltern und im Gegenzug fühlen die Kinder sich verpflichtet, im Alter für ihre Eltern zu sorgen.
In südkoreanischer Kultur ist Hierarchie nicht wegzudenken – ob unter Freunden unterschiedlichen Alters, vor den Eltern oder dem Chef am Arbeitsplatz. Ein kleines Beispiel zum Respektverhalten: Als Deutsche liegt mir die Frage nach dem ‚Warum‘ im Blut. Für mich eine völlig natürliche Frage, die ich stellen darf und sogar einfordern kann, wenn ich etwas nicht verstehe. In Südkorea kann diese Frage schon als Infragestellung einer Autorität aufgefasst werden. Wenn ich bei Höhergestellten etwas hinterfrage, sollte ich mir also genau überlegen, ob und wie ich meine Bedenken vortrage. In solchen Momenten hieß es, mich zurückzunehmen und an meinen Grundsatz im Bezug auf Kulturen zu erinnern. Es ist nicht falsch, nur anders. Das hilft, die neue Kultur erst einmal zu beobachten und voneinander zu lernen, statt mich auf meinen „besseren“ Weg zu beschränken. Natürlich hat das ausgeprägte Hierarchieverständnis Schattenseiten, weil es zulässt, dass ältere Menschen eine gewisse Macht ausüben können, mit der nicht immer nur positiv umgegangen wird. Doch es entsteht ein natürlicher Respekt, den ich in Deutschland manchmal vermisse. In den Klassenzimmern Koreas tummeln sich Kinder, die ihren Lehrern still und respektvoll zuhören, während sich die Lehrer Deutschlands den Respekt teilweise regelrecht erkämpfen müssen. Zum Vorschein kommt hier nicht nur der Respekt, der im li verankert ist, sondern auch die Höflichkeit des jen.
Früher wie heute ist ein Punkt durch den Konfuzianismus fest in Südkorea verankert: Bildung. Gute Bildung führt zu Erfolg, glauben die Koreaner. Mit viel Fleiß und harter Arbeit wird dieser Gedanke verwirklicht. In der Schule sind gute Noten äußerst wichtig, denn sie öffnen den Weg zur Elite-Uni, die das ultimative Ziel der allermeisten Koreaner ist. Der konfuzianistische Wert wen taucht auch heute noch auf, denn fast immer wird neben der Schulbildung der Kinder auch einer musikalischen oder sportlichen Betätigung nachgegangen. Nicht nur in der Schule, auch im Beruf wird hart gearbeitet. Im Juli 2018 wurde in Südkorea ein neues Gesetz gültig, das die maximale Arbeitszeit von 68 Arbeitsstunden pro Woche auf 52 senkte. Nicht bei allen traf diese neue Regelung auf Begeisterung und inoffiziell werden immer noch viele Überstunden gemacht. Über die Arbeitsethik der Kultur sagt dies einiges aus. Ergebnisse der harten Arbeit spiegeln sich in der einzigartig schnellen Modernisierung des Landes wieder. Zur Modernisierung brauchten die meisten Länder Jahrhunderte. Südkorea errichtete innerhalb von nur fünfzig Jahren aus einem zerstörten Land einen hochmodernen selbstständigen Staat. Heute verfügt Korea über das schnellste Internet der Welt und ist Deutschland in vielen Dingen weit voraus. Der konfuzianistische Charakter der harten Arbeit und Pflichterfüllung machte das Land zu dem, was es heute ist.
Konfuzianistische Lehre besagt, dass nicht das Individuum, sondern der andere Mensch im Vordergrund steht. Südkorea erstrebt kein Herausstechen Einzelner, sondern fokussiert sich auf die Gruppe, das Kollektiv. Diese Haltung drückt sich bereits im chun tzu des Konfuzius aus. Schon in der einheitlichen Mode spiegelt sich diese Auffassung wieder. Ein besonderer Trend ist die Pärchen-Kleidung: Paare, die exakt dieselbe Kleidung tragen und sich so in der Öffentlichkeit präsentieren. Während im individualistischen Deutschland der Gedanke an einheitliche Kleidung eher abstoßend wirkt, wird er im kollektivistischen Südkorea umgesetzt und ist sehr beliebt.
Was von den Hauptpunkten Konfuzius‘ bleibt, ist das te, das sich gegen ein tyrannisches Herrschertum richtet. Eine interessante Begebenheit dazu: Aufgrund eines Korruptionsskandals wurde Präsidentin Park Geun-hye im Jahr 2017 ihres Amtes enthoben und zu einer millionenschweren Geldstrafe sowie 24-jährigen Haftstrafe verurteilt. Dazu kam es unter anderem durch die sogenannten „Kerzen-Demonstrationen“ des Volkes. Mit einer Rekordzahl von mehr als zwei Millionen Bürgern fanden diese regelmäßig statt. Stets friedlich bewegten sich die Koreaner mit Kerzen in der Hand auf den Protesten. Die Kerzendemonstrationen zeigen, wie sehr das Land auf Ungerechtigkeit von Seiten der Regierung reagiert. Aktiv wurde gegen Präsidentin Park vorgegangen, die ihr Amt missbrauchte und somit das Vertrauen der Bevölkerung verlor.
Südkorea ist schon lange eng verknüpft mit dem Konfuzianismus. Über mehrere Jahrhunderte war er sogar Staatsreligion. Im gegenwärtigen Korea gibt es nur noch Einzelne, die den Konfuzianismus als Religion ausüben. Viele Elemente sind allerdings fest in der Kultur verankert. Südkorea ist ein hochmodernes Land, das dennoch verbunden ist mit Tradition und den Konfuzianismus in vielen Lebensbereichen in sich trägt.
Weiterführende Literatur:
Lee, Eung-chel (Hg.): Inside Korea. Discovering the People and Culture, Carlsbad (USA) u.a. 2012.
Oh, Chong-Hwa: Die Religion des neuen Korea. Wie das Christentum Koreas Weg in die Moderne gefördert hat, Nürnberg u.a. 2014.
Smith, Huston: Die sieben großen Religionen der Welt. Eine Wahrheit, viele Wege, München 2. Aufl. 2004.
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