„Anstrengend!“ titelte DASDING und untertreibt damit nach Ansicht unseres Autors Daniel Schüler maßlos. „Quäl dich“, schrieb RPR1 und trifft es damit seiner Meinung nach schon eher, wünschte zudem „Hals- und Beinbruch.“ Und das für eine Idee, die ebenso verrückt und waghalsig wie unglaublich großartig klingt: Die 100. Tour de France einmal selbst nachfahren, mit all’ den Höhen und Tiefen, Bergen und Tälern.

Sport machen, das kann eigentlich jeder. Doch nicht allen genügt das. Einige Sportler suchen Herausforderungen. Immer mehr, immer größere. Marcel Gläßer ist so einer. Und dabei hat ihm sein Schicksal erst durch einen Umweg eine Herausforderung nach der nächsten beschert. Die größte unter ihnen hat er sich selbst ausgesucht. Wohlüberlegt. „Ich werde einmal die 100. Tour de France nachfahren!“ Das hat er sich als Ziel gesteckt, gemeinsam mit drei guten Freunden. Doch dies ist viel leichter gesagt als getan, bedarf einiger Planung, bestenfalls auch Sponsoren und eine Menge körperlicher sowie mentaler Fitness.
Das alles kann man finden, sich erarbeiten, wenn man die 100. Tour tatsächlich nachfahren will. Diese begann am 29. Juni 2013 in Porto-Vecchio auf Korsika und endete am 21. Juli 2013 – wie in all’ den Jahren zuvor – auf den Champs-Élysée in Paris. Nach 21 Etappen. Im August 2014 sollten diese durch vier Jungs aus dem Westerwald in Staffelform bewältigt werden. Nicht unbedingt in der gleichen Reihenfolge, denn dies wäre logistisch ohne professionelles Team gar nicht möglich. „Schon gar nicht, weil man nicht eben mal von einem Ankunftsort zum nächsten Abfahrtsort fliegen kann. So wie die Profis“, verrät der Radsport-Fan. Außerdem müsse man zum Beispiel pünktlich Fähren erreichen. Viel darf also nicht schiefgehen, will man den knappen Zeitplan einhalten.
Mit Dingen, die schiefgehen können, damit kennt sich Marcel Gläßer, 26, aus. „Leider“, wie er selbst sagt. 2011 erlitt er als Beifahrer einen schweren Verkehrsunfall, bei dem sein rechter Oberschenkel komplett zertrümmert wurde. Schnell wurde ihm klar, dass er seine Leidenschaft, das Handballspielen, schweren Herzens aufgeben müsse. Und auch sein Lehramtsstudium für Sport und Mathematik schien stark gefährdet. Denn noch einmal richtig laufen zu können, rückte für den jungen Sportler in weite Ferne. „So kann ich den Schülern kaum ein gutes Bewegungsvorbild sein“, hält er fest. Auch einige seiner Freunde hatten Bedenken, rieten ihm: „Mach doch besser etwas anderes, Marcel. Etwas, was du kannst.“ Für einen leidenschaftlichen Sportler müssen diese Sätze, muss diese Gewissheit, wie ein Schlag ins Gesicht sein: Plötzlich nicht mehr richtig laufen können.
Folglich musste eine Alternative her, ein neuer Ausgleich. Diesen fand der Westerwälder zunächst im Schwimmen. „Doch mit Schwimmen hab’ ich nichts am Hut“, gibt er zu: „Mein Physiotherapeut musste mich da sehr zu quälen.“ So blieb nach überstandener Reha nur eins: das Radfahren. „Im Freien, naturverbunden, und auch ein Stück weit intim“, wie Marcel es beschreibt. So kam es wie es kommen musste: Noch auf Krücken kauften er und sein guter Freund Adrian sich Rennräder. „Diese standen dann zunächst einmal einen ganzen Winter lang im Keller“, gesteht er. Schließlich sei an Fahren nicht zu denken gewesen. Noch nicht.
Auch Adrian rührte sein neues Rennrad nicht an, wollte die erste Tour gemeinsam mit seinem guten Freund machen. Längst ist in dieser Zeit eine Idee entstanden. Eine Idee, die nicht nur für den jungen Sportler eine gewaltige Herausforderung darstellen sollte. Eine weitere Herausforderung. Eine noch viel größere, als sie der Unfall mitsamt seinen Folgen, Rehas und Operationen schon gewesen ist. Die „Tour 3333.“ Warum diese Idee so heißt? Der Ideengeber erklärt das mit einem Zwinkern so: „Die 100. Tour de France umfasste 3336 Kilometer. Die wollen wir nachfahren, aber eine Schnapszahl kann man sich leichter merken. So einfach ist das.“ Schnell schlug die Idee eine Welle. In Marcels Familie, in seinem Freundeskreis und in der Umgebung. Außer Adrian beschlossen zwei weitere gute Freunde, Christian und Fabian, diese Herausforderung gemeinsam mit Marcel angehen zu wollen.
Auch die Internetnutzer belohnen diesen Mut, diesen Einfall. Die Facebook-Fanseite der „Tour 3333“ zählte schon nach wenigen Wochen über 500 „Gefällt mir“-Angaben. Auch, weil die vier Jungs ein Charity-Projekt aus ihrer Tour gemacht haben. Dafür hatte man sich die Münz-Stiftung mit ins Boot oder besser gesagt mit aufs Rad geholt. Marcels „Trophäen“, die Bilder der Tour 3333, sammelt er in vielen fein säuberlich sortierten Ordnern auf seinem Laptop. Er klickt ein paar Bilder vor, klickt noch einmal eins zurück, erinnert sich. „Ein Traum war’s!“, hält der Sportler fest, bevor er das nächste Bild anklickt. Es zeigt die vier Jungs, die mit ihren Rennrädern vor einem Wohnmobil mit vielen Aufklebern von Sponsoren posieren. Schnell wird klar: Diese Idee hat überzeugt! Nicht nur durch seine eigene Vorgeschichte, sondern auch aufgrund der Planung, des Zusammenhalts der vier Freunde und deren Willen. Kaum verwunderlich also, dass man es auf eine Spendensumme von über 20.000 Euro brachte.
Aber es musste nicht nur viel organisiert sondern auch viel trainiert werden: „Und das hat nicht immer gut geklappt“, verrät der ehrgeizige Athlet. Im April 2012 stieg der leidenschaftliche Sportsmann erstmalig auf sein neues Rennrad, begann zu trainieren. Im November 2013 folgte der Rückschlag: Eine Infektion im rechten Oberschenkel – Krankenhaus! Drei weitere Operationen folgten. Weihnachten 2013 sprach keiner mehr von der „Tour 3333“, die schon im August des Folgejahres starten sollte. Auch seine drei guten Freunde schwiegen.
Und der Protagonist? Er träumte, hoffte und arbeitete mit eiserner Disziplin weiter; erinnerte sich an Motivations-Bücher, die er in den vergangenen Wochen und Monaten gelesen hatte. Von Joey Kelly, von Radprofi Jens Voigt, von Andreas Niedrig. Letzterer hatte ihn besonders mit dem Buch „Vom Junkie zum Ironman“ beeindruckt, das noch heute in Marcels Regal steht. „Das wollte ich auch schaffen – zumindest so ähnlich“, schiebt er schnell lachend hinterher. Und er sollte es schaffen. Daran hatte er nie einen Zweifel. Schon mit dem Wort „Zweifel“ hat er so seine Probleme. Er kennt es nicht, will es auch gar nicht kennen. „Ehrfurcht“, „Respekt“, „Vorfreude“ – damit kann der Athlet im Zusammenhang mit der „Tour 3333“ besser umgehen. Viel besser.
Marcel wusste, was er sich und seinen Freunden „antun“ will, was sie sich zumuten müssen, als er sich im April 2014 wieder auf sein Rennrad schwingt. Genau das bedarf einer „größtmöglichen Absicherung.“ So zogen die Jungs trainingswissenschaftliche Analysen heran, die ihnen verdeutlichten, welche Vorleistungen in etwa nötig seien, um ihren Plan in die Tat umzusetzen. „Denn wie gesagt: Viel schiefgehen darf da nicht!“, betont er noch einmal, „zumal die Strecken ja normal befahren werden und nicht abgesperrt sind.“ Zur weiteren Vorbereitung hatte er dann auch noch mit Christian Allistair McCaw aufgesucht. Der Südafrikaner zählt zu den besten Trainern im Bereich der tennis- und squashspezifischen Fitness und absolvierte zwölf Marathons in nur zwölf Monaten. Das sollte dem Quartett den nächsten „Schuss Motivation“ geben. Und mit seinem Zitat „When nothing is sure, everything is possible! Always believe!“, zu deutsch: „Wenn nichts sicher ist, ist alles möglich! Glaube immer daran!“, das auf der Rückseite des „Tour 3333“-Shirts zu lesen ist, war McCaw der Tour wohl sehr viel näher, als er sich heute vielleicht vorstellen kann.
Doch was wäre eine „Tour 3333“ ohne Rückschlag? Ohne neue Herausforderungen? Schon bei der dritten Etappe stürzte Marcel. Seine Handflächen bluteten stark. Aber was wäre das für eine Geschichte, wenn ein Sturz mit dem Rad das Quartett nun aufhalten würde? „Es war schlicht zu keinem Zeitpunkt denkbar aufzuhören, abzubrechen. Das kam niemals in Frage!“, versichert der Gestürzte. Auch an der Fitness der vier Jungs konnte die „Tour 3333“ nicht scheitern. Über 3000 Trainingskilometer ist Marcel in den wenigen Monaten vom Frühling bis zum August 2014 gefahren. Alle mit dem einen Ziel: Seine eigenen Grenzen überwinden zu können. Diese hat er während der Tour nur zweimal spüren müssen. An Tag sieben, als das Quartett von Giors 242,5 Kilometer auf den Mont Ventoux radelte und drei Tage später, als die 172,5 Kilometer von Gap nach Alpe-d’Huez zu bewältigen waren. „Der Mont Ventoux war irre! Ich habe mich ablenken müssen, habe Umdrehungen gezählt. Zehn links, zehn rechts. Es ging einfach nur geradeaus und wahnsinnig steil bergauf“, erinnert er sich – sichtlich stolz, über sein eigenes Limit hinausgegangen zu sein.
Stolz, das kann jedes der vier Teammitglieder zu Recht sein. Am Ende bleibt außer der Erleichterung die vielen Strapazen überstanden zu haben auch der Lohn: Die Überzeugung, seine persönlichen Herausforderungen gemeistert zu haben. „Nach meinem schweren Unfall war die ‚Tour 3333’ ein Teil meiner Selbstverwirklichung“, gibt Marcel glücklich zu. So glücklich, als wäre er erst gestern wieder in seiner Heimat angekommen. „Sicher, auf den Unfall hätte ich verzichten können, aber ich habe viel gelernt und großartige Erfahrungen gemacht.“ Eine seiner Erfahrungen zeigt ihm so zum Beispiel sich richtig entschieden zu haben sein Studium fortzuführen: „Ich werde es, wenn alles klappt, im kommenden Jahr abschließen. So wie ich die ‚Tour 3333’ erfolgreich abgeschlossen habe.“
Doch da gibt es noch eine ganz andere Einsicht, und die ist Marcel besonders wichtig. Wichtiger als alle anderen: Die 100. Tour de France einmal selbst nachfahren, mit all’ den Höhen und Tiefen, Bergen und Tälern, das macht man nicht mit seinen Freunden. „Das macht man nur mit seinen besten Freunden.“
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