Mit einer psychischen Erkrankung zu leben, fordert viel von den Betroffenen. Angehörige sind oft hautnah dabei und erleben von Überforderung über Ratlosigkeit bis hin zu Ängsten eine Belastung, die auch zur eigenen psychischen Instabilität führen kann. Unsere Autorin gibt einen Einblick in ihr Leben als Angehörige eines bipolaren Bruders.
Es ist ein Uhr nachts. Mein Handy klingelt, mein Bruder ruft an. Fragt mich, wie es mir geht, erzählt ein paar wirre Geschichten, ohne meine Antwort abzuwarten und legt wieder auf. Normalerweise ist mein Handy nachts aus. Wegen ihm lasse ich es neuerdings aber an. Mein Bruder ist bipolar. Er führt ein Leben zwischen extremen Emotionen.
Unter dem einen Extrem, der Depression, können sich die meisten Menschen etwas vorstellen. Dazu gehören Symptome, wie eine gedrückte Stimmung, Antriebslosigkeit und Verlust von Freude oder Interesse. Die Manie wiederum drückt sich im entgegengesetzten Extrem aus: euphorische Stimmung, Rastlosigkeit, Verlust sozialer Hemmungen und Selbstüberschätzung.
Konflikt zwischen Nähe und Distanz
Wir stehen uns sehr nah, mein Bruder und ich. Zu nah, denke ich inzwischen oft. Das ist das Schwerste für mich: der Wunsch nach Nähe und das gleichzeitige Wissen, dass ich Abstand brauche, um selbst nicht kaputt zu gehen.
Oft merken die Menschen um mich herum gar nicht, was ihre Gesprächsthemen in mir auslösen. Sie erzählen fröhlich von ihrem Familienleben und meine Gedanken kreisen darum, ob meine Familie sich je wieder vollständig anfühlen wird. Sie berichten von der wunderschönen Hochzeit am vergangenen Wochenende und ich versuche krampfhaft, die unschönen Erinnerungen an die Hochzeit meines eigenen Bruders zu verdrängen. Sie diskutieren darüber, warum Britney Spears auf Tournee gehen konnte, wenn sie wirklich bipolar sein sollte – und ich bin wütend, weil sie keine Ahnung von der Krankheit haben.
Auf der Suche nach neuen Wegen als Familie
Ich versuche, mich in diesen Momenten nicht zu sehr in meine Gefühlswelt zu begeben. Es ist auch ohne externe Trigger schon schwer genug. Ganz wegschieben kann ich es nicht. Zu präsent ist die Krankheit meines Bruders in meinem Alltag. Ich mache mir Gedanken darüber, ob ich ihn in der Psychiatrie besuche oder ob das zu belastend für mich ist, wie es nach seiner Entlassung weitergeht, wann ich das nächste Mal in seine Augen schaue und ihn darin erkenne und wann er lernen wird, so mit der Krankheit umzugehen, dass ein normales Leben wieder möglich ist?
Zu meinen Freunden sage ich oft: Familie kann das Schönste auf der Welt sein, aber auch das Schwerste. Ich hatte das Glück in einer stabilen, tollen Familie aufzuwachsen. Selbstverständlich ist das nicht und das wusste ich immer zu schätzen. Jetzt ist eben die schwere Seite dran. Wir müssen uns durchkämpfen und neue Wege als Familie finden. Doch – wer weiß – vielleicht kommen auch wieder Zeiten, in denen wir entspannt im Wohnzimmer sitzen. Und – wer weiß – wenn alle ein bisschen anders sind, aber wir gelernt haben, das Anderssein zu einem Teil unserer Familie werden zu lassen, dann ist das vielleicht auch gut. Anders gut.
Schreibe einen Kommentar