Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung beschreibt, dass Fachleute eine Zunahme an Essstörungen seit der Covid-19-Phase wahrnehmen. Unsere Autorin Frida will Menschen eine Stimme geben, die sich zeigen und von ihrem Leidensweg berichten wollen.
Dieser Artikel beinhaltet Selbsterfahrungsberichte. Wenn du selbst betroffen bist, wendest du dich am besten gezielt an Fachkräfte. Am Ende des Artikels findest du zusätzliche Hilfs- und Unterstützungsangebote.
Flapsige Sprüche…
„Mama, kann ich noch eine Kartoffel essen?“, fragte ich über den Tisch hinweg. Mit Verwandten waren wir in den Urlaub gefahren und saßen gemütlich zusammen. „Nein, dein Bauch ist schon groß genug!“ Ein Lachen stellte sich in der Tischgemeinschaft ein und mein Onkel meinte spöttisch: „Ach, dein Bauch ist zu groß!“ Eine unheimlich große Scham legte sich über mein noch kleines, zartes Gemüt. „Ich bin schlecht!“, nahm ich aus dieser Situation mit.“ (Sarah)
„Schau mal, warum ist das Kind dort so dick?“ – Ich erinnere mich sehr gut an diese Situation, weil ich selbst dieses Kind war. Ich habe keine Antwort auf diese Frage. Bin ich schon als dickes Kind geboren? Was stimmte mit mir denn nicht?“ (Tobi)
„Mit unvorhergesehener Kraft riss mir eine Schulfreundin mein T-Shirt von hinten weg. Ich trug nur noch weite T-Shirts und keinen BH, weil ich keine Brüste wollte. Sie schaute von oben in mein Shirt hinein. Danach tuschelte sie mit den anderen, sie lachten und verschwanden. Eine Freundin traute sich, mich zu fragen, warum ich denn so dünn sei. Ich sagte nichts.“ (Anja)
…und ihre Konsequenzen
„Lieber Gott, mach, dass mein Bauch kleiner wird!“, betete ich als Elfjährige. Meine Gedankten kreisten nur noch darum, warum ich so falsch war. (Sarah)
„Jahre später verstand ich, dass das Gefühl der Scham mit den Zeugen zusammenhing, also wie andere Menschen in der Situation reagierten. Meine Selbstwahrnehmung veränderte sich im Laufe der Zeit. Ich kontrollierte mit den Händen, ob ich um die Oberschenkel fassen konnte. Ich musste in die engen Hosen passen und hatte große Ängste vor der körperlichen Veränderung in der Pubertät. Meinen Körper lehnte ich in Gänze ab.“ (Sarah)
„Heute weiß ich, dass nicht die Kommentare meines Umfeldes eine Essstörung bei mir ausgelöst haben. Die Worte fielen wie Samen auf fruchtbaren Boden, denn ich hatte davor schon kein positives Selbstbild. Die Früchte davon waren Selbsthass, Selbstablehnung und tiefe Ängste. Ich zog mich immer mehr in mir selbst zurück.“(Tobi)
„Die ein oder andere Freundin verfiel ebenso einer Anorexie, einer Bulimie oder einer Binge-Eating-Störung, gesprochen haben wir aber nie darüber. Es gab ein Mantel des Schweigens darüber.“(Steffi)
„In den Phasen, wo die Essstörungen sehr präsent war, log ich sehr viel. „Ich habe schon gegessen. Ja, mir geht’s gut. Ja, ich komme klar. Nein, ich brauche keine Hilfe. Nein, ich habe mich nicht übergeben.“(Jana)
Das innere Erleben
„Auf Klassenfahrt tupfte ich das Fett beim Essen weg, aß ein trockenes Brötchen und trank Wasser. Ich konnte mich niemandem anvertrauen. Die Scham war zu groß und ich fand keine Worte für mein Empfinden. So blieb ich allein mit der herzzerreißenden Traurigkeit und dem Gedanken, noch mehr die Essensaufnahme kontrollieren zu müssen.“ (Sarah)
„Die Scham bei der Bulimie empfand ich als übermächtig. Wollte ich mich jemandem anvertrauen, bemerkte ich, wie sich mein Hals verkrampfte und kein Wort herausließ. Aber mein Körper rebellierte zusehends und ich konnte mich nicht mehr gegen den Kampf meines Körpers wehren.“ “ (Anna)
„Wenn ich esse, denke ich nicht mehr so viel nach. Ich bin einfach da. Ich kann mich ein bisschen spüren. Ich brauchte keine Angst mehr zu haben, denn ich bin versorgt. Ich spüre sogar ein wenig Wärme in mir. Aber danach fühle ich mich schrecklich schuldig.“ (Tobi)
„Ich habe die Anorexie öfters auch als Kampfwaffe gesehen. Das Umfeld machte sich Sorgen und ich fühlte mich stark und disziplinierter als andere. Ich hatte mich mehr im Griff, dachte ich. Ich war oft unerreichbar und spielte mit meinem Leben. Ich spürte mich zum ersten Mal so richtig. Es kribbelte. Ich fror.“ (Uli)
„Ich habe gar nicht gecheckt, in einer Binge-Eating-Störung zu sein. Ich beobachte mich häufig selbst dabei, wie ich zum Kühlschrank lief und wahllos Lebensmittel herauszog. Ob ich sie mochte oder nicht – egal. Hauptsache, Essen und loslassen. Mechanisch sah ich meine Hand Lebensmittel greifen und sie zum Mund zu führen. „Stopp!“, schrie ich laut. Doch als hätte es niemand gehört, machte meine Hand weiter. Ich bemerkte, wie ich mich beruhigte. Es war, wie in einen tiefen See einzutauchen. Wann ich zur Besinnung kam? „Was hast du nur gemacht?“, dröhnte es dann in mir. Eine tiefe Schuld legte sich auf mich. Ich hatte es wieder einmal getan. Ich habe mal wieder so richtig gefressen.“ (Nora)
„Wenn ich nicht sofort zum Essen greifen kann, drehe ich halb durch. Ich werde dann ganz nervös, kaue an meinen Fingernägeln und kann nicht mehr klar denken. Erst, wenn meine Hand Essen fühlt und zum Mund führt und ich alleine im Raum bin, lasse ich innerlich los.“ (Fabian)
Eigene Reflexionen
„Ich habe einmal mit etwas übermäßigem Essen begonnen, dann wurde die Menge größer. Vielleicht könnte man schon von einer Masse sprechen. Ich zähle die Packungen nicht. Ich werfe sie in den Müll und den bringe ich weg. Ich traue mich nicht, den Berg an Snacks anzuschauen, die ich konsumiere. Ich brauche das. Ich habe Angst, sonst nicht zu überleben.“ (Mia)
„Manchmal denke ich: Heute tust du es nicht mehr. Heute lässt du dich nicht in eine Essattacke hineinziehen. Und dann esse ich ganz wenig und plötzlich überkommt mich der Gedanke, dass doch eh alles egal ist. Und ich mache weiter.“ (Fabian)
„Besonders abends schlittere ich in eine Essattacke. Ich schaffe es nicht, den Tag über meine Gefühle zu sortieren. Abends sacke ich traurig und verzweifelt auf meine Coach. Es dauert nicht lange, bis ich einen großen Essensberg wie benebelt verschlinge.“ (Ulrike)
„Ich habe schon festgestellt, dass mir mein Leben sinnlos erscheint. Ich fühle mich sehr einsam. Irgendwie komme ich nicht klar. Aber beim Essen fühle ich mich wohl. Endlich bin ich irgendwie glücklich. Auch wenn nur ganz kurz.“ (Adriana)
„Ich esse aus Trotz, aus Frustration, aus einem Mangelempfinden. Wenn ich esse, konzentriere ich mich ganz darauf und vergesse alles um mich herum. Ich fühle mich frei. Aber es darf mich niemand dabei beobachten. Ich mache das heimlich. In meiner Familie fühle ich mich beschämt, wenn sie merken, dass Essen fehlt. Also verstecke ich das in meinem Zimmer.“ (Alex)
„Lebensmittel sind überall verfügbar. Sie sind keine illegalen Drogen, die man vermeiden kann. Wenn man aber eine Esssucht entwickelt hat, ist es leichtes Spiel, an Essen zu kommen. Ich plante meinen Tag in dem Wissen, stets einen Supermarkt aufsuchen zu können. Manchmal schaffte ich es kaum aus dem Laden heraus, ohne schon zu essen. Ich brauchte dieses Gefühl, loslassen zu können. Ich verlor den Überblick. Ich kam mir wie in einem Tunnelerlebnis vor. Einmal fuhren Freunde vorbei und hielten an, um mich mitzunehmen. Mein ganzer Rucksack war voller Lebensmittel. Ich schämte mich so sehr. Ich konnte nichts sagen. Nicht einmal, dass ich gar nicht mitfahren wollte.“ (Cora)
Die Reaktionen
„Machte sich mein Umfeld noch große Sorgen bei der Anorexie, zeigten sie sich fortan beruhigter. Ich hatte ja durch die Essattacken in der wechselnden Phase zur Bulimie zugenommen. Was keiner sah, waren die Szenarien, die sich hinter den Kulissen abspielten: Essattacken, Schuldgefühle, übergeben, weiter funktionieren.“ (Sarah)
„Manchmal sagte ich meiner Mutter, dass ich mich nicht als schön betrachtete und mich wertlos fühlte. Sie schwieg.” (Ulrike)
„Ach, das ist doch nicht so schlimm, wenn du einmal mehr isst als sonst!“, beruhigte mich ein Freund, als ich versuchte, von meinen Essanfällen zu erzählen. Ich erzählte ihm fortan nichts mehr davon.“ (Cora)
„Wenn wir in der Gruppe essen waren, aß ich sehr wenig. Danach musste ich aber schleunigst heim, sodass ich weiteressen konnte für mich allein. Das hat mich alles so gestresst, denn ich wäre gerne in der Gemeinschaft geblieben. Ich hatte so Angst vor der Reaktion der anderen.“ (Fabian)
„Du musst einfach weniger essen, wenn du eh schon zu viel auf den Hüften hast.“ Als wüsste ich das nicht selbst. Aber mit einem guten Willen und strenger Disziplin kam ich nicht weiter. Warum versteht mich denn keiner?“ (Alex)
Wie würdest du reagieren, wenn dir jemand von seinem essgestörten Verhalten berichtet?
In Teil 2 geht es um Auswege aus Essstörungen und Zukunftsperspektiven.
Mögliche Hilfs- und Unterstützungsangebote:
Bei Essstörungen Hilfe finden: BZgA Essstörungen
Essfrust: Wie Sie Essstörungen erfolgreich bekämpfen können
Freie Therapieplätze – Bundes Fachverband Essstörungen
Schritt für Schritt gemeinsam aus der Essstörung – ANAD Essstörungen
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