In einem Vortrag an der Bonner Universität spricht die Linken-Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht vor Studenten über die Zukunft der Volksparteien Union und SPD. Vor dem Hintergrund des heftigen Unionsstreits der vergangenen Wochen könnte das Thema kaum aktueller sein.

Wer in Google „Niedergang der Volksparteien in Deutschland“ eingibt, der findet quer durch die Medienlandschaft verteilt zahlreiche Treffer: Von traditionell konservativen Medien wie der Frankfurter Allgemeine Zeitung und dem Cicero über den ARD-Talk „Maischberger“ bis hin zum Stern und der Frankfurter Rundschau beschäftigen sich die Medien spätestens seit der Bundestagswahl 2017 mit der Frage, ob Deutschland ein Ende der Volksparteien erlebt.
Die Frage könnte kaum aktueller sein, lässt sich doch gerade in eindrucksvoller Weise ein Auseinanderbrechen der Unionsparteien beobachten. War vor kurzem noch die SPD mit Umfragewerten unterhalb der 20-Prozent-Marke das größte Sorgenkind der Nation, so wirkt die Union spätestens seit diesem Juni uneins und fragiler denn je – auch wenn sie seit Montagabend eifrig bemüht ist, das Gegenteil zu demonstrieren. In diesen politisch-turbulenten Tagen hält die Fraktionschefin der Linken, Sahra Wagenknecht, in der Universität Bonn auf Einladung des Vereins Deutscher Studenten zu Bonn (VDSt) am Dienstag, den 26.06.2018, einen Vortrag mit dem Titel „Der Niedergang der Volksparteien?!“. Bei der Planung dürfte sie allerdings kaum geahnt haben, wie passend das Datum gewählt wurde.
Trotz hoher AfD-Werte: Mehrheit für linke Positionen überwiegt
Angefangen bei Schilderungen über den Zusammenhang von Wahlbeteiligung und Einkommen, über angebliche Verfehlungen von Union und SPD in der Wirtschafts- und Sozialpolitik als Hauptgrund für die Krise der etablierten Parteien bis hin zum „Versagen“ in der Migrationspolitik schlug Wagenknecht in knapp 75 Minuten einen inhaltlichen Rundumbogen. Sie erklärte den weitaus unbestrittenen Zusammenhang zwischen der sozialen Lage und der Walbeteiligung und wies darauf hin, dass neben einigen ehemaligen Nicht-Wählern, die als Unterstützer der AfD wiedergekehrt seien, auch die Volksparteien Union und SPD zugunsten der AfD geschrumpft seien. So weit, so bekannt. Statt aber nun von einem gefährlichen Rechtsruck zu sprechen, betonte sie, Umfragen zeigten immer wieder, dass es keine Rechtverschiebung in Deutschland gebe: „Bei diesen Umfragen ist das interessante, dass eigentlich klassisch sozialdemokratische – also in dem Sinne linke Positionen – in Deutschland unverändert mehrheitsfähig sind.“
Als Beispiel nannte sie Befragungsergebnisse zu sozialpolitischen Themen wie etwa eine mehrheitliche Befürwortung für die Wiedereinführung der Vermögenssteuer für sehr hohe Einkommen und für einen höheren Hartz-IV-Satz. Eine mögliche Erklärung dafür, dass Parteien, die sich traditionell für solche Forderungen einsetzen wie die SPD oder die Linken derzeit keine Mehrheiten haben, sieht sie in der aktuellen Entwicklung der Parteien: In bestimmten Fragen könnten Mehrheiten sich gar nicht mehr politisch widerspiegeln, „weil es gar keine relevante, wählbare Parteienkonstellation mehr gibt, die für eine solche Politik steht!“ Alle möglichen Konstellationen hätten sich bei den letzten Wahlen mit Ausnahme von der Linken sehr geähnelt. Als Beispiel für die inhaltliche Nähe insbesondere zwischen Union und SPD führte sie den Schulz-Wahlkampf an, in dem die SPD nahezu verzweifelt versucht hatte, in ihrem Programm Unterschiede zur CDU/CSU herzustellen.

Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierungsparteien führt zu Wählerverlust
Wer aber denkt, dass Wagenknecht nun auf eine oft propagierte Mitte-Links-Verschiebung der Union unter Merkel hinaus will, der täuscht. Viel eher ist sie der Meinung, dass beide Regierungsparteien einer neoliberalen Wirtschaftspolitik folgten. „Im Kern stehen beide heute für ein anderes Wirtschaftsmodell als das, was sie in den 60er, 70er und 80er Jahren vertreten haben – und zwar für einen tendenziell deregulierten Kapitalismus, für einen Abbau von Sozialstaatlichkeit, für veränderte Regeln am Arbeitsmarkt (…).“ Die Fraktionsvorsitzende führte aus, dass beide Parteien in ihrer Zusammenarbeit prekäre Arbeitsverhältnisse begünstigt hätten und heute stärker auf Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen setzten als damals. Auch die Steuerpolitik von Union und SPD habe vor allem Erleichterungen für große Unternehmen und Besserverdiener im Blick gehabt. In diesem Zusammenhang bezog sie sich auf die Verteilung des Wohlstands in Deutschland: Trotz guter Wirtschaftslage sei es so, „dass aktuell circa 40 Prozent der Bevölkerung weniger Einkommen hat als Ende der 90er Jahre.“ Mit einer solchen Politik hätten die Parteien zur sozialen Spaltung in der Gesellschaft beigetragen und zu einer Wählerabkehr von Union und SPD geführt.
Sicher ist der eine oder andere nun geneigt, diese Argumentation pauschal als linkes „Sozialistengerede“ abzutun, aber man sollte sich die Zahlen dahinter etwas genauer ansehen. Laut dem Armutsbericht der Bundesregierung haben die untersten 40 Prozent der Deutschen 2015 real weniger verdient als in den 1990er Jahren. Auch DIW-Chef Marcel Fratzscher bestätigte diese Zahlen. Das ARD-Investigativmagazin „Monitor“ hat vor gut einem Jahr am Beispiel einer Krankenschwester die Lohnveränderungen und die sozialen Abgaben für einen Beruf mit Durchschnittseinkommen nachgezeichnet. Ergebnis: Trotz Lohnsteigerung bleibt einer Schwester 2017 ca. drei Prozent weniger vom Einkommen als Ende der 90er Jahre. Grund: Kürzungen und Teilprivatisierungen von Leistungen, Erhöhung der Mehrwertsteuer, Zuzahlungen, neue Abgaben. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zeigt, dass diese Maßnahmen in Kombination mit einer Entlastung hoher Einkommen, Unternehmen und dem Wegfall der Vermögenssteuer in den letzten 20 Jahren zu einer stärkeren Belastung der mittelern und niedrigen Einkommen bei einer gleichzeitigen Entlastung der einkommensstärksten zehn Prozent geführt hat. In dieser Zeit war die SPD mit Ausnahme der Legislaturperiode von 2009 bis 2013 stets an der Regierung beteiligt.
Was man aber auch in den Blick nehmen sollte, sind einige der jüngsten Regierungsbeschlüsse: Vor wenigen Tagen hat die Koalition ein Maßnahmenpaket ausgearbeitet, dass Familien durch eine Erhöhung von Kindergeld, -freibetrag und -zuschlag entlasten soll. Auch die Wiedereinführung der Parität zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bei Krankenkassenbeiträgen wurde vor kurzem beschlossen. Diese und weitere Vorhaben würden die kritisierte Deregulierung ein Stück weit zurücknehmen, sofern sie denn tatsächlich greifen.
Hoher Wirtschaftseinfluss in Politik verstärkt Entwicklung
Wagenknecht sieht die Verfehlungen der beiden Parteien aber als weitaus tiefgreifender: Die Leute hätten begriffen, dass weder die Politiker noch sie als Bürger die Macht im Land haben. So sagten wohl die meisten Befragten in einer aktuellen WDR-Sendung: „Die Macht hat die Wirtschaft, die Macht haben die großen Unternehmen.“ Die Politikerin ist der Meinung, dass das Problem der etablierten Parteien im Zusammenhang mit ihrem neoliberalen Kurs stehe. Ob neoliberal oder nicht, in einem Punkt dürfte sie Recht haben: Die Bürger sind sich des großen Einflusses der Wirtschaft auf die Politik bewusst. Und viele fragen nach seiner Legitimität.
Beispiele gibt es genug: Es ist schwer vermittelbar, warum etwa Autobauer, die ihre Kunden jahrelang kategorisch betrogen haben, In Deutschland bislang mit Software-Updates und öffentlichen Entschuldigungen davonkommen, während sie in den USA Strafzahlungen leisten müssen und von den Verbrauchern verklagt werden. Das Gleiche gilt für kleine und mittelständische Unternehmen, die ihre Steuern zahlen, während sie zugucken, wie Starbucks und Amazon keinen Cent an den deutschen Staat überweisen. Für die Linken-Fraktionsvorsitzende ist ein solches wirtschafts- und sozialpolitische Gebaren insgesamt ein Grund, der viele Benachteiligte in die Arme extremer Parteien treibt. Das Ziel dahinter sei es, die Parteien für ihre Verfehlungen mit einer Protestwahl zu bestrafen. Andere wiederum würden gar nicht mehr wählen. Mehr als 470.000 Wähler hat die SPD an die Rechtspopulisten bei der Bundestagswahl verloren, zu keiner anderen Partei wechselten die Sozialdemokraten öfter. Hat sie also Recht?
Kritik an Wagenknechts Einstellung zu Migrationspolitik
Zumindest im Hinblick auf die Union lässt sich sagen, dass die Sozial- und Wirtschaftspolitik der letzten Jahre nicht der primäre Grund für den Wählerverlust in der Union ist. Die Ursache ist eher in den Gründen zu suchen, die zur Entfremdung zwischen CDU und CSU führten: Anhänger des traditionell konservativen Lagers fühlen sich durch Aktionen wie die Euro-Rettung, die Ehe für alle und vor allem die offene Flüchtlingspolitik der Kanzlerin nicht mehr vertreten und wechseln insbesondere zur FDP oder AfD. Mit Merkels inhaltlichem Umbau der Partei können sich viele einstige Anhänger nicht mehr identifizieren.
Zu diesem Punkt sagte Wagenknecht nichts, durch Fragen aus dem Publikum wurde sie am Ende aber mehr oder weniger dazu gezwungen, sich zur Flüchtlingsdebatte zu äußern. Ihre Position hierzu ist in der Partei äußert umstritten: Im Gegensatz zur Parteilinie plädiert sie nicht für offene Grenzen für jeden, der kommen möchte. Sie fordert eine Begrenzung der Arbeitsmigration, steht aber klar hinter dem Asylrecht für Verfolgte und Kriegsflüchtlinge. Das Thema führte zuletzt auf dem Linken-Parteitag Anfang Juni zu einer offenen Auseinandersetzung. Auch an diesem Abend erntete sie für ihre Sichtweise Kritik von einem Genossen aus dem Publikum.
Linke im Osten selbst von Niedergang als Volkspartei bedroht
Wenn es nach Wagenknecht geht, hätte viel mehr in die Bekämpfung der Fluchtursachen vor Ort investiert werden müssen. Sie betonte aber: „Wir müssen das Asylrecht für Verfolgte verteidigen.“ Unabhängig davon verteidigte sie ihren Ansatz, dass nicht jeder nach Deutschland kommen könne: Mit der Forderung von offenen Grenzen für alle isoliere man sich. Sie erklärte den Zuhörern, dass viele Menschen der Auffassung seien, so etwas könne nicht funktionieren und sich in der Folge abwenden würden, was es den Rechten einfacher mache, Stimmen zu gewinnen.
In Interviews erklärt Wagenknecht ihre Position in der Flüchtlingsdebatte damit, dass es die Aufgabe linker Politik sei, denen zu helfen, die bereits am Rande der Gesellschaft seien. Sie verweist in dem Bezug auf Verteilungskämpfe um Arbeitsplätze, Wohnraum und soziale Leistungen, die zwischen Geflüchteten und den Ärmsten stattfänden.
Wer sich das Wahlergebnis der Linken und ihre Wählerwanderung bei der Bundestagswahl 2017 anguckt, kann Wagenknechts Ansatz als realpolitisch einordnen. Auch Die Linke ist im Osten vom „Niedergang der Volksparteien bedroht“, galt sie dort doch lange als eine solche. In allen neuen Bundesländern wurde die AfD entweder zweitstärkste Kraft hinter der CDU oder sogar stärkste – ein Ergebnis, das die Linke jahrelang erreichte. Die meisten Wähler hat die Linkspartei an die Rechtspopulisten verloren. Auf diesen Fakt wies auch Wagenknecht selbst in aller Klarheit hin.
„Wir haben zurzeit keine Volksparteien“ – stimmt das?
Droht nun also auch in Deutschland ein Niedergang der Volksparteien? Zumindest für Wagenknecht ist klar: „Ja, wir haben einen Niedergang (…). Wir haben zurzeit keine Volksparteien, aber wir bräuchten sie wieder!“ Blickt man auf die Fakten, gibt es Beispiele aus vielen Ländern Europas, die zeigen, dass eine solche Entwicklung denkbar ist: In den Niederlanden etwa haben die Sozialdemokraten 2017 nur noch 5,7 Prozent erreicht und in Italien ist keine etablierte Partei mehr an der neuen Regierung beteiligt. Aber es gibt auch Gegenbeispiele: In Großbritannien etwa bringen es die Conservative Party und die Labour Party aktuell gemeinsam auf um die 80 Prozent der Befragten. Gerade das Beispiel der Labour Party brachte Wagenknecht an dem Abend dazu, hoffnungsvoll zu bleiben, und für einen Aufbruch zu plädieren.
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