Manchmal frage ich mich, wie es wohl wäre, perfekt zu sein? Glücklich, zufrieden, makellos, erfolgreich. Die Regale in den Drogerien suggerieren uns, wir seien gar nicht weit davon entfernt; müssten bloß zugreifen und das Glück der Perfektion regne auf uns herab. Neuerdings hat auch die Gentechnik so einiges im Angebot. Leben wir vielleicht schon bald in der „schönen neuen Welt“ der Perfekten? Auf den ersten Blick scheint sie verlockend, aber ob die Rechnung am Ende wirklich aufgeht, ist zu bezweifeln.
Das Streben nach Perfektion. Ich wage zu behaupten, dass wir alle das kennen. Dass wir alle uns bereits nach einem Quäntchen mehr Perfektion gesehnt und uns selbst kritisiert haben. Es ist etwas in unserem tiefen Innern, das ständig danach sucht, mehr zu erreichen und unserem Bild von „dem Perfekten“ näher zu kommen. Wir färben uns die Haare, stählern unsere Muskeln, legen uns in manchen Fällen sogar freiwillig auf den OP-Tisch. Wir putschen uns auf, um den immer größer werdenden Anforderungen gerecht zu werden, oder um noch eine weitere Sprosse auf der Karriereleiter zu erklimmen. Die Ziele scheinen lockend: Selbstzufriedenheit, Anerkennung, Erfolg. Wir haben oft genaue Vorstellungen von unserer Zukunft, und der Zufall soll dabei doch bitte außen vor bleiben.
Nun steht im Kampf gegen das Unperfekte ein weiterer, vielversprechender Verbündeter an unserer Seite: Die Gentechnik. Sie hat die Grenze der „feindlichen“ menschlichen Biologie überschritten und es zum ersten Mal in unserer Geschichte möglich gemacht, nicht mehr nur von außen auf unsere Konstitution einzuwirken. Die moderne Gentechnik ermöglicht es, bis in unser Inneres einzugreifen. Auf schockierende Art und Weise zeigt sich hier, was der Mensch, auf dem Weg hin zur erhofften Zufriedenheit, bereit ist zu tun. Nun ist selbst die eigene DNA nicht mehr unantastbar. Es scheint, als würden wir den Ansprüchen des Lebens mit unseren Ecken und Kanten nicht mehr gerecht werden können. Als bräuchte es erst den Rotstift, der streicht, verändert und überschreibt. Der Mensch als Individuum, wie er auf die Welt kommt, wertvoll und einzigartig, scheint traurigerweise nicht mehr genug.
„Utopien sind verwirklichbar“ – Nikolai Alexandrowitsch Berdjajew
Manchmal scheint es, als hätten Autoren ein Gespür für die Zukunft. Was Aldous Huxley wohl sagen würde, wenn er sich in den heutigen Gentechnik-Laboren wiederfände? Würde der Autor der „Schönen neuen Welt“ sich fühlen als tauche er ein, in seine eigens, vor mehr als 80 Jahren, erschaffene Welt? Sein Roman beginnt mit einem Zitat des russischen Philosophen Nikolai Alexandrowitsch Berdjajew: „Utopien erscheinen realisierbarer als man früher glaubte. […]. Utopien sind verwirklichbar. Das Leben marschiert ihnen entgegen.“
Die Utopie, von der hier die Sprache ist, ist jene, die Huxley mit seiner „schönen neuen Welt“ erschuf. Eine Gesellschaft, die ausschließlich in Reagenzgläsern „gezeugt“ wird. Jeder frei von Krankheiten, ausgestattet mit einer guten Portion Serotonin und voll und ganz zufrieden mit seiner jeweiligen gesellschaftlichen Aufgabe im herrschenden Kastensystem. Ganz egal ob man nun zu den Alpha Plus – also den angesehensten – oder den Epsilons – der untersten Gesellschaftsschicht – gehört, prägen Zufriedenheit, Sorglosigkeit und Effizienz das Leben.
Die natürliche Barriere bröckelt
Frei von Krankheiten, Reagenzgläser, Genmanipulation: Das klingt gar nicht mehr nur nach Science-Fiction Roman. Haben Berdjajew und Huxely Recht behalten? Marschieren auch wir der Utopie des perfekten Menschen etwa geradewegs entgegen? Oder sollte man lieber sagen: Dystopie? Schön, erfolgreich, stark. Ohne Makel. Ohne Krankheit. Stichwort „Designerbaby“. Stichwort „Biohacking“.
Immerhin ist es bereits möglich, die DNA von Embryonen zu verändern, gewünschte Fähigkeiten des Nachwuchses zu stärken und gesundheitliche Risiken zu mindern. Darüber hinaus wird aus den USA über Selbstversuche mit CRISPR berichtet, bei denen sich Biohacker die Moleküle injizieren, um zum Beispiel der Muskelabnutzung vorzubeugen und deren Alterung zu verlangsamen. Hier müsste Huxley also noch nicht einmal ins Labor treten, um sich seine real gewordene Welt anzuschauen. Da reicht es in ein Wohnzimmer in den USA zu schauen.
Selbstverständlich sind gentechnische Fortschritte nicht rundherum zu verdammen. Sie können enorme Chancen für die Behandlung vieler schwerwiegender Krankheiten darstellen. Aber müssen wir unterscheiden zwischen medizinischer Notwendigkeit und gefährlichem Eigennutz.
Das „eine“ Perfekte – ein Trugschluss
Es ist ein so kleines Wort mit gigantischer Wirkung. Überaus subjektiv und schwer zu greifen, hat jeder seine ganz persönliche Vorstellung davon. Es gibt keine Liste an Eigenschaften, die ich mir antrainieren kann, um mich „optimal“ nennen zu können. Was für mich erstrebenswert ist, muss es noch lange nicht für andere sein. Doch genau diese Tatsache macht es deutlich: es gibt kein allgemeines „perfekt sein“. Jeder misst mit einem anderen Maßstab, sieht mit anderen Augen. Wieso sollen wir uns also geißeln, um einem Ideal zu folgen, das allenfalls in unserer eigenen Vorstellung existiert? Fakt ist: Ich habe noch keinen Menschen kennengelernt, der perfekt ist. Und um ehrlich zu sein, möchte ich das auch nicht. In der Gesellschaft eines perfekten Menschen käme ich mir sehr eingeschüchtert und fehl am Platz vor. Würde er mich doch stets an meine kleinen Makel erinnern, mit denen ich noch so auf Kriegsfuß stehen.
Und trotz dieses Wissens, dass ich selbst nicht die „perfekte“ Freundin suche, mir meine Freunde und die Menschen in meiner Nähe meist genau aufgrund ihrer kleinen Unvollkommenheiten ans Herz gewachsen sind und diese sie menschlich machen, klopft doch immer wieder der innere Kritiker an die Tür.
Wieso ist dieses Streben oft so tief in unserem Inneren verankert?
Es mag sein, dass früher, wenn wir einmal weit zurück schauen in unsere Vergangenheit, tatsächlich der/die Schönste, Stärkste und Erfolgreichste die besten Überlebenschancen hatte. Das dieses Streben und das Verdecken von Schwächen und Makeln damals über Leben und Tod entschieden hat. Aber heute leben wir in anderen Zeiten. Der Überlebenskampf hat Platz gemacht für Individualität und Einzigartigkeit, für die wir uns nicht geißeln müssen.
Diesem inneren Drang zu widerstehen ist nicht immer leicht. Auch ich habe oft mit ihm zu kämpfen. In einem kleinen Experiment habe ich mir einmal überlegt, welche Fähigkeiten ich dem perfekten Menschen zuschreiben würde und war doch selbst überrascht, wie lang die Liste geworden ist. Noch überraschter war ich dann aber, als mir aufgefallen ist, wie unvereinbar manche Eigenschaften miteinander sind. Schwarz auf weiß lag die Erkenntnis am Ende vor mir: Den perfekten Menschen kann es nicht geben!
Auch im Strudel der Perfektion heißt es: Kurs halten
Die Waage zwischen dem Optimierungswahn und der inneren Zufriedenheit im Gleichgewicht zu halten ist nicht leicht und wird für manche von uns zu einem lebenslangen Balanceakt. Zu oft wird uns zugeflüstert, dass wir die Welt erobern könnten, wenn wir endlich perfekt sind. Glücklich und zufrieden könnten wir alle Steine auf unserem Weg entspannt beiseite stoßen.
Perfekt ist Zufriedenheit? – Schön wär`s. Es ist ein Trugschluss. Tiefe innere Zufriedenheit finden wir nicht im Perfekten, nicht in all den Schönheitsmitteln in unserem Badezimmer und sicherlich nicht in der Spritze gefüllt mit CRISPR. Zufriedenheit finden wir in der Akzeptanz. In der Gewissheit, dass wir gut sind, so wie wir von der Natur erschaffen wurden, mit all unseren unterschiedlichen Fähigkeiten und Makeln. Wir sollten dankbar dafür sein, dass uns das Leben geschenkt wurde und die Grenzen der menschlichen Biologie wahren. Anstatt daran zu arbeiten, mit welchen Neuerungen wir uns selbst noch weiter übertrumpfen können, anstatt den Blick auf das zu lenken, was an uns noch nicht perfekt ist, sollten wir uns fragen, was uns in Wahrheit wichtig ist. Sind es wirklich die nicht alternden Muskeln, die faltenlose Haut, die Sportrekorde? Glücklich machen uns diese Dinge nicht. Jedenfalls nicht auf lange Sicht. Glücklich machen uns soziale Kontakte, Beziehungen und innere Akzeptanz. Wenn wir lernen uns mit all unseren Eigenschaften zu akzeptieren, dann finden wir die (un)perfekte Zufriedenheit.
Auch wenn ich geplant hatte auf das Wort „Corona“ hier zu verzichten, ganz gelingt es mir nun doch nicht. Denn gerade im Angesicht der derzeitigen Gefahr durch das Virus zeigt sich doch deutlich, dass unsere Gemeinschaft von Werten wie Hilfsbereitschaft, Solidarität und Zuneigung lebt. Nicht von Makellosigkeit. Ist der Strudel aus Perfektion und Optimierungsvisionen auch noch so stark müssen wir den Fokus behalten:
Wir alle sind Menschen mit unserer ganz eigenen Geschichte und Fähigkeiten. Das macht uns als Individuum einzigartig und als Gesellschaft stark.
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