Kurz vor Weihnachten fährt man in die Heimat, verbringt die Feiertage mit seiner Familie und beschenkt sich gegenseitig. Für den Großteil der Studenten und jungen Erwachsenen vermutlich die typische alljährliche Routine. Dieses Jahr habe ich mich dagegen entschieden und das Fest nicht mit meiner Familie verbracht. Weshalb und was ich daraus lernte, erfahrt ihr hier.
Die meisten, mit denen ich im Dezember über Weihnachten sprach, erzählten mir davon, wie sie die Feiertage traditionell verbringen. In meiner Familie hat es solche Weihnachtstraditionen nie richtig gegeben. Klar, es gibt irgendein leckeres Gericht, man geht in die Kirche und die Großeltern werden besucht. Zumindest habe ich diesen Prozess nie als etwas wahrgenommen, der es wert war „Tradition“ genannt zu werden. Das Menü wechselt jährlich, die Diskussionen bleiben gleich. Alle fühlen sich durch die Vorbereitungen gestresst und irgendwo zwischen dem Geschenke Kaufen, Weihnachtsbaum Schmücken und Besuche Koordinieren schleicht sich Unzufriedenheit ein, weil jedes Familienmitglied andere Prioritäten und Bedürfnisse hat, die nicht erfüllt werden.
Kosten-Nutzen-Rechnung
Ich studiere dieses Semester im Ausland, in der ungarischen Hauptstadt Budapest, etwa 1.000 Kilometer von meiner Heimat entfernt. Logistisch betrachtet, wäre es kein Problem gewesen, die Feiertage mit meiner Familie zu verbringen. Ich entschied mich dennoch dagegen. Die Gründe dafür sind sowohl rationaler als auch emotionaler Herkunft. Mein Semester endet mit dem Januar. Zwischen zwei Heimreisen läge gerade mal ein Monat, ich würde innerhalb dieser Zeit mindestens 48 Stunden in Zügen oder Bussen verbringen. Fliegen möchte ich nicht.
Im neuen Jahr stehen zwei Prüfungen an, ein Zurückkommen an meinen Studienort ist also unumgänglich. Außerdem wollte ich nur einmal von meiner vorübergehenden Wahlheimat Abschied nehmen müssen. Vielleicht liegt es daran, dass wir nie die Weihnachtstradition in der Familie etabliert haben oder alle Mitglieder sowieso nah genug beieinander wohnen, um sich regelmäßig zu Gesicht zu bekommen. Der Anreiz war nicht groß genug, den Nachhauseweg auf mich zu nehmen. Kühl gesagt, die Kosten-Nutzen-Rechnung ist dieses Jahr nicht zu Gunsten meiner Familie ausgegangen.
Alle Jahre wieder
Weil wir uns alle Jahre wieder auf dünnen Eis befinden, was Vorstellungen und Erwartungen angeht, sind die Diskussionsthemen vorprogrammiert. Die Eltern wollen in die Kirche, die Geschwister nicht. Für Papa gehören Braten oder Gans auf dem Tisch, die Veganer fühlen sich nicht respektiert. Alle Enkel wollen die Großeltern am liebsten gleichzeitig besuchen, aber Oma soll sich nicht zu viel Arbeit machen, sagen die Eltern. Keiner wünscht sich etwas und doch hofft jeder insgeheim darauf, dass ein Päckchen unter dem Baum wartet, in das ein paar graue Zellen geflossen sind. Was Materielles soll es aber bloß nicht sein, denn man ist dem Minimalismus-Trend verfallen.
Das stundenlange Essen in Gemeinschaft stellt oft das Highlight des Abends dar. Außer man gehört zu jenen, die „anders“ essen, lieben oder leben und dafür belächelt, ausgefragt oder gar diskriminiert werden. Diese Schilderung klingt vielleicht nach dem Worstcase-Szenario. Im Grunde ist es ein bisschen wie Bingo, sicher treffen nicht alle möglichen Aussagen und Situationen immer oder gleichzeitig zu, aber ein paar Treffer gibt es mit Gewissheit.
Internationales Weihnachten
Statt mich all diesem Trubel dieses Jahr hinzugeben, verbrachte ich den Heiligen Abend mit einer Hand voll anderer internationaler Studenten, die „unverständlicherweise“ ebenfalls nicht abgereist waren. Organisatorisch zugegebenermaßen alleine aufgrund der Gruppengröße und der Tatsache, dass es sich nur um Individuen und keine ganzen Familien handelte, ein einfacheres Unterfangen. Ich stellte meine WG-Küche zur Verfügung und jeder bereitete etwas für das Büffet vor. Dabei wurden dann eben Kartoffelpüree mit Rotkohl, veganer Flammkuchen und Tortellini kombiniert. Why not, lecker war es.
Statt planmäßig um 19.30 Uhr ging es letztendlich erst um 20.15 Uhr los. Pünktlichkeit hat nicht überall die gleiche Bedeutung wie in Deutschland. Gestört hat es, bis auf hungrige Mägen vielleicht, niemanden. Geschenke gab es nicht und keine Sekunde lang habe ich die Bescherung vermisst. Dafür konnten wir ein Kartenspiel auftreiben und füllten den Abend mit Geschichten über unsere vergangenen Weihnachten, wie wir normalerweise Zuhause feiern und weshalb wir dieses Jahr hier sitzen.
Résumé
Gutes Essen, Kartenspiele, Wein und lange Gespräche; grundlegend hat sich der Inhalt kaum von den vergangenen Weihnachtsfeiern unterschieden. Dennoch war es anders als alle Jahre zuvor. Wir waren ein zusammengewürfelter Haufen junger Erwachsener aus drei verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Gewohnheiten, Traditionen und Wünschen. Wir konnten uns nicht auf ein „so haben wir das schon immer gemacht“ verlassen und haben unsere Kommunikation damit auf ein neues Level gebracht. Jeder hat versucht, Rücksicht auf die anderen der Gruppe zu nehmen. Bei der Wahl des Essens, dem Ablauf und während der Gespräche.
Ich durfte das Fest mit Freunden verbringen, die einer anderen Religion angehören und zum ersten Mal Weihnachten in einem christlichen Land erleben. Das führte dazu, dass man sich selbst viel mehr mit seiner eigenen Kultur auseinandersetzte und hinterfragte, warum es gewisse Bräuche gibt und was sie eigentlich bedeuten. Weihnachten hat die Bedeutung, die wir ihm geben. Es war erfrischend, so viel Offenheit füreinander zu erfahren und die Erfahrung hat mir gezeigt, was ich an diesen Tagen wirklich schätze: Reflexion, Freude, Gemeinschaft.
Das Ende der Geschichte
Auf das nächste Weihnachtsfest freue ich mich schon jetzt, zu Hause mit meiner Familie. Mit Opas Geschichten, die jedes Jahr die gleichen sind. Ich freue mich auf Geschenke verpacken, einen richtigen Weihnachtsbaum und all die Traditionen, die wir scheinbar doch haben. Auf meiner Wunschliste für Weihnachten 2019 vermerke ich Offenheit, Empathie und Kommunikation. Ich wünsche mir, dass wir miteinander reden, als wäre es nicht selbstverständlich, dass wir jedes Jahr beisammen sind, als hätten wir kein „schon immer“, das unser Weihnachten automatisiert. Das heißt nämlich, wir müssen miteinander reden und Kommunikation löst in solchen Fällen bekanntlich die meisten Probleme.
Glücklich darf ich mich schätzen, dass es für mich eine freie Entscheidung war, das Fest nicht im Familienkreis feiern zu wollen und dass ich die Gewissheit habe, bei meiner Familie immer willkommen zu sein. Und wenn ich auf all den Terz irgendwann mal wieder keine Lust habe weiß ich, dass man Weihnachten auch anders sehr schön verbringen kann.
Habt ihr Weihnachten schon einmal „anders“ gefeiert? Ohne Familie oder auf Reisen zum Beispiel? Lasst es uns in den Kommentaren wissen!
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