Es ist wohl nicht anmaßend, zu behaupten, dass bisher kaum einer Generation so viele Möglichkeiten offenstanden wie der unseren. Während wir unsere Freiheit ausleben, sind die Werte, nach denen wir heute leben, und deren Träger jedoch zunehmend gefährdet.
Das Jahr 2018 neigt sich dem Ende zu. Für mich war es ein ganz Besonderes. Ich habe eines der größten Privilegien meiner Generation nutzen dürfen. Ende vergangenen Jahres packte ich meine Sachen und stürzte mich in ein Abenteuer, das mein Leben verändert hat. Ein Jahr lang war ich unterwegs, um verschiedene Orte, Menschen und Kulturen zu entdecken. Ich habe meine Komfortzone verlassen und es genossen, mich für fremde Denkansätze und Lebensweisen zu öffnen. Positive wie negative Erlebnisse haben dazu beigetragen, meinen Charakter zu formen. Aus Orientierungslosigkeit wurden Vorstellungen und Ideen, aus einem Kind ein Erwachsener.
Nun bin ich zurück in Deutschland. Schaue mit einem lachenden und einem weinenden Auge auf das Jahr zurück. Ich bin glücklich, dass mir die Chance geboten wurde, diesen Weg zu gehen und spreche bewusst von einem Privileg unserer Generation. Wie auch meine Eltern sind mein Bruder und ich im Spreewald aufgewachsen. Ein zweifelsohne schöner Ort im Süden Brandenburgs. Doch auch die Schönheit eines Ortes kann den Drang zu entdecken, die Erkundungslust, die man besonders in der Entwicklung zu einem jungen Erwachsenen verspürt, nicht bremsen. Anders als mein Bruder, der 2012 ein Auslandsjahr in Australien verbrachte, und ich hatten meine Eltern als ehemalige DDR-Bürger nicht die Möglichkeit, die komplette Vielfalt unserer Erde in ihren Mittzwanzigern zu erleben. Ihre Unterstützung für die Vorhaben und Abenteuer ihrer Kinder ist aber stets gesichert. Sie wissen, wie wichtig es für uns ist, zu reisen und sie hätten in unserem Alter vermutlich das Gleiche getan – hätten sie die Chance gehabt.
Europafeindliche Tendenzen
Die größten Freiheiten beim Reisen genoss ich innerhalb Europas. Selten musste ich mich auf zeitintensive Grenzkontrollen einstellen, nie einen Gedanken an die Aufenthaltsdauer verschwenden. Bei finanziellen Engpässen konnte ich sogar problemlos Minijobs annehmen. Diese oft als selbstverständlich hingenommenen Freiheiten erscheinen mir beim Blick auf die politische Entwicklung in unserer Gesellschaft als gefährdet. Die Europäische Union sieht sich zunehmend öffentlicher Kritik und Ablehnung ausgesetzt. Gesunder Kritik kann ich viel abgewinnen, trägt sie doch maßgeblich zu stetigem Fortschritt und Verbesserung bei. Die Ablehnung besorgt mich jedoch. So steht zu Beginn des nächsten Jahres der Brexit an. Ohne zu wissen, wie sich der Ausstieg des Vereinigten Königreichs aus der EU entwickelt, muss man mit dem Bewusstsein leben, dass über 50 Prozent der Wähler in 2016 für den Ausstieg und somit gegen ein gemeinschaftlich arbeitendes, friedliches Europa gestimmt haben. Dass diese Tendenzen gegen die EU nicht nur unter britischen Bürgern bestehen, ist kein Geheimnis. Europafeindliche Parteien sitzen derzeit in vielen Parlamenten.
Die nationalkonservative Regierung Polens tritt die europäischen Werte mit Füßen, indem sie das Justizsystem um seine Unabhängigkeit zu bringen droht. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán schafft es, in einem EU-Mitgliedsstaat Medien, Gerichte und Universitäten zu kontrollieren. Italien schottet sich unter Innenminister Matteo Salvini insbesondere in der Flüchtlingspolitik vom Rest Europas ab. Abschreckende Beispiele? Wohl kaum. Seit der Regierungsbildung im Frühjahr ist die eurokritische AfD oppositionsführende Partei im Deutschen Bundestag. In Schweden erhielten die rechtspopulistischen Schwedendemokraten bei den Wahlen zum Reichstag im September diesen Jahres gar 17,8 Prozent der Stimmen. Es liegt mir fern zu behaupten, dass in der EU alles perfekt läuft, aber ich bin fest davon überzeugt, dass sie unheimlich wichtig für einen regen kulturellen Austausch, ein friedliches Zusammenleben und auch für die Umsetzung gemeinsamer wirtschaftlicher Interessen ist.
Für die Gemeinschaft einstehen
Meine Reisen durch Ost-, Süd- und Westeuropa in den vergangenen zwei Jahren haben mir ebenfalls ein anderes Bild gezeigt. Zwar sind Landschaften, Menschen und Kulturen auch innerhalb Europas schon sehr unterschiedlich, offene Grenzübergänge und der Umgang miteinander signalisieren aber oft ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Im Gespräch mit anderen, vor allem jungen Europäern fühle ich mich als Teil einer Gemeinschaft. Sei es bei einem Tinto de Verano mit litauischen Auswanderern im Herzen Granadas, einem Strandspaziergang mit Einheimischen im italienischen Bardolino oder beim gemeinsamen Erkunden der wunderschönen Gassen Lissabons mit belgischen Studenten. Die EU bietet ihren Bürgern unter anderem die Möglichkeit, sich Reise-, aber auch Arbeits- und Wohnort innerhalb ihrer Mitgliedsstaaten frei auszuwählen. Selten kam es mir so vor, als wolle irgendjemand diese Vorzüge missen. Man akzeptiert, respektiert, und schätzt sich unter- und interessiert sich füreinander.
Mein Bruder ist mittlerweile zweifacher Vater. In 20 Jahren, vielleicht früher, werden sich meine Nichten in der Situation befinden, die Welt außerhalb der deutschen Grenzen kennenlernen, sich kulturell austauschen und Freundschaften mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen anderer Nationen schließen zu wollen. Es liegt an uns, ob auch sie noch die Privilegien genießen dürfen, die unserer Generation zustehen. Wir sind verantwortlich dafür, die Stimmen gegen ein friedliches Zusammenleben in der EU und über die europäischen Grenzen hinweg zu übertönen. Dafür ist es wichtig selbst nicht stumm zu bleiben und für Gemeinschaft und Frieden einzustehen. Das bedeutet, sich stets an Parlamentswahlen zu beteiligen und sich gegebenenfalls auch im friedlichen Protest auf der Straße Gehör zu verschaffen. Denn auch wenn der Zuspruch für europafeindliche Politik zunimmt, zeigen die Wahlergebnisse, dass der Anteil der EU-Befürworter noch immer deutlich größer ist. Die Welt ist für alle Menschen da und auch die folgenden Generationen werden den Drang verspüren, sie in all ihrer Vielfalt zu entdecken. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie diesem Drang widerstehen müssen!
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