Nicole ist in der Psychiatrie. Die junge Frau arbeitet dort als Krankenpflegerin auf einer Seniorenstation; nichts für stille Mäuschen. Ein echter Draufgängerjob im Samthandschuh.

Immer zwischen 06:40 Uhr und 13:15 Uhr ist Dienstbeginn. Fast jeden Tag eine andere Schicht. Montag Früh-, Dienstag Spät-, Mittwoch ein Tagesdienst und so weiter; oft zwölf Tage am Stück, dann ist Wochenende. Der Biorhythmus ist dabei schon irgendwann im ersten Ausbildungsjahr draufgegangen. „Man gewöhnt sich schnell dran und so ist es wenigstens nicht langweilig“, sagt Nicole. Immerhin: „So hab ich mal den ganzen Vormittag und mal den ganzen Nachmittag frei.“
Nicole ist frisch examinierte Krankenpflegerin. Für die Psychiatrie. Ihr Einsatzbereich ist die Station Raphael – ein Ort an dem ein Patient im Schnitt dreimal so alt ist, wie sie. Raphael ist die Gerontostation der Psychiatrie, also „die Station der Greise“. Eine Ü65-Veranstaltung eben. Und Nicoles Lieblingsarbeitsplatz. „Weil es hier so abwechslungsreich ist, denn es gibt auch viele somatische Krankheiten und ich habe nicht nur mit psychischen Symptomen zu tun“.

Die Situation auf der Station erinnert weniger an jene in einem sterilen Krankenhaus oder einer verstaubten Seniorenresidenz, sie ist vielmehr geprägt von kuriosen Begegnungen lebhafter Charaktere: Alt, aber nicht altbacken. Skurril, aber nicht seltsam. Lustig, ohne lachhaft zu sein und gleichzeitig mit einer nicht zu unterschätzenden Ernsthaftigkeit, die stets im Subtext mitschwingt. Da sitzt eine ältere Dame im Flur am Tisch, weint immer wieder leise und ruft immer wieder laut nach dem „Schwesterlein“. Indes kicken sich im Gruppenraum Senioren in Zeitlupentempo einen Ball zu, während aus der Küche eine weitere betagte Dame herbeieilt und mit blassem Gesicht ganz verwirrt ihren roten Pullover sucht. Wo mag der nur sein?
Voll normal: Alltag in der Psychiatrie
Station Raphael ist eine der 14 Stationen im St. Rochus-Hospital im westfälischen Telgte. Das Haus ist eine Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Hier hat Nicole nach dem Abitur ein Freiwilliges Soziales Jahr gemacht und sich danach für die Ausbildung beworben.

Der größte Lehrmeister ist die Praxis selbst. Während sie im ersten Ausbildungsjahr noch viel zugeschaut hat, durfte und musste sie im Laufe der Zeit immer mehr selbst entscheiden und Verantwortung für die Patienten übernehmen. „Dadurch bin ich viel gewissenhafter geworden – auch privat.“ Die Erfahrung in der Psychiatrie hat Nicole geprägt. Sie weiß jetzt, was Leid alles bedeutet und wie ein Menschenleben aussehen kann. „Seit der Ausbildung hier gibt es bei mir zum Beispiel keine Zickereien oder unnötigen Streite über Kleinigkeiten mehr“, sagt sie.
Die Praxiseinsätze haben Nicole in einen Job eingeführt, der sie immer mal wieder an ihre Grenzen bringt. „Einmal hatte ich in meiner Ausbildung Nachtschicht auf einer geschützten Station. Es gab einen Zwischenfall und wir mussten eine Patientin fixieren. Wir – das waren eine junge Pflegerin und ich.“ Erst mit Hilfe von vier Polizeibeamten konnten sie den Patienten in die Fixierung bringen.
Nie vergessen wird Nicole ihren ersten Toten. Als junge Examinierte war sie für einen Patienten zuständig, der während des Aufenthalts starb. Die Familie begleiten, die Bestattung organisieren und zum ersten Mal Abschied nehmen – aber nicht als Angehöriger, sondern als Pflegender; das war nicht leicht. Oder als vor einigen Wochen viele besonders aggressive Patienten aufgenommen wurden: „Blaue Flecken waren Alltag.“ Nicole kamen Zweifel: Bin ich wirklich im richtigen Job?

Teamarbeit
Geholfen hat ihr damals der starke Zusammenhalt im Stationsteam. Das Team hat sich in der Betreuung der aggressiven Patienten abgewechselt und die Belastung gemeinsam geschultert. „Wenn man merkt, dass ein Fall dem Kollegen zu viel wird, sprechen wir ihn darauf an und finden gemeinsam eine Lösung.“
Sie mag ihren Job. Auch wenn sie gerade erst angefangen hat, respektieren die Patienten die junge Pflegerin. Und wenn nicht, dann muss Nicole das so annehmen und den Patienten an einen Kollegen abgeben. Ein professioneller Abstand ist dabei wichtig, um nicht am Ende verrückt zu werden. Nicole kann gut in ihrer Freizeit abschalten. Wenn sie ein Fall beschäftigt, erzählt sie ihren Freunden davon. Bloß nicht die Arbeit in sich hineinfressen, das macht mürbe. „Es ist wichtig, dass man nie vergisst, dass diese Menschen aufgrund einer Krankheit so sind, wie sie sind. Oft ist es bloß die Krankheit, die aus ihnen spricht.“ Diese klare Trennung von Gesundem und Pathologischen hilft Nicole die notwendige Grenze zu ziehen.
Der rote Pullover ist immer noch weg. Inzwischen haben Nicole und die ältere Dame den Kleiderschrank der Patientin durchsucht. Achselzuckend steht Nicole jetzt im Schwesternzimmer. Vorne hängt eine Vermisstenliste: „Was fehlt?“ „Roter Pullover – Frau Hinz[1]“, schreibt sie dahin. „Der taucht schon wieder auf“, meint Nicole. Leise kichernd fügt sie hinzu: „Also – falls es ihn gibt.“
[1] Name von der Redaktion geändert.
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