In den letzten Wochen haben wir wohl alle viel zur sogenannten „Flüchtlingsdebatte“ gelesen und gehört. Und der eine oder andere wird sich sicher denken: „Noch ein Kommentar zu dem Thema, muss das sein?“ Ja, es muss sein. Während in den Leitmedien überwiegend Menschen aufwärts der Altersmarke von 30 Jahren ihre Meinung äußern, soll hier ein Blick aus der Perspektive eines jungen Menschen auf das Thema geworfen werden.

In den letzten Wochen hat die Gesellschaft, haben Politiker und Medien darüber diskutiert, ob man Menschen auf dem Mittelmeer sterben lassen soll, ob Seenotretter Verbrecher sind, und ob Länder dazu verpflichtet sind, umherirrende Schiffe mit Geflüchteten an ihren Häfen anlegen zu lassen. In Italien hat Innenminister Matteo Salvini privaten Organisationen verboten, in Seenot geratene Flüchtlinge an Land zu bringen, in Deutschland hat sich ein Innenminister über 69 abgeschobene Flüchtlinge mokiert, ein wahres Geburtstagsgeschenk.
Lieber von Werten reden statt nach ihnen handeln
Da stellt sich eine Frage ganz zwangsläufig: Wie weit ist es gekommen, dass wir ernsthaft über so etwas diskutieren? Dass wir überhaupt in Erwägung ziehen, Menschen sterben zu lassen, um zu verhindern, dass noch mehr kommen. Was – nebenbei bemerkt – vermutlich die gewünschte Wirkung verfehlen würde, denn viele Menschen nehmen billigend den Tod auf dem Mittelmeer für ein menschenwürdigeres Leben in Europa in Kauf. Wie weit ist es gekommen, dass ein Politiker einer „christlichen“ Partei bei einem solch zynischen Ausspruch völlig mit sich im Reinen zu sein scheint?
Die EU redet stets von Werten: von Humanität, von Menschenwürde und von Gerechtigkeit. Gerne bekennen europäische Politiker sich bei ihren Treffen und Gipfeln zu eben diesen Werten. Aber: Wo ist die Humanität, wenn man sich abschottet, um Menschen nicht helfen zu müssen? Wenn man billigend in Kauf nimmt, dass Menschen sterben, um innenpolitisch einen Treffer zu landen? Wo ist die Gerechtigkeit, wenn man schutzsuchenden Menschen durch bestehende Gesetze und Regeln seit Jahren die Möglichkeit eines legalen Fluchtweges verweigert, um ihren Asylantrag überhaupt stellen zu können?
Auf dem EU-Gipfel Ende Juni wurden ausschließlich Maßnahmen vereinbart, die ein Ziel haben: Abschottung. „Schutz“ der Außengrenzen. Eigentlich dachte ich immer, man müsse Menschen schützen, nicht Grenzen. Und all das wird meist damit gerechtfertigt, dass die EU keine Kapazitäten für weitere Flüchtlinge habe. Dass die einzelnen Mitgliedsländer überfordert seien. Dass die Bürger sich um ihre Sicherheit sorgten. Eines ist doch ganz klar: Mit solchen Sprüchen wird nahezu provoziert, dass die Menschen genau das denken. Und übernehmen. Man kennt es von Demagogen: Wiederholung um Wiederholung bis die Leute das Vorgetragene irgendwann übernehmen und glauben.
Strukturelle Probleme dürfen nicht zu inhumanem Verhalten führen
Natürlich stimmt es, dass viele Bundesländer und Kommunen überfordert sind, dass die Integration nicht überall funktioniert und, dass es Verteilungskämpfe um Sozialwohnungen oder gar um Nahrung gibt – man erinnere sich an den Aufruhr um die Essener Tafel. Das sind strukturelle Probleme, die man sehr ernst nehmen muss, die man aber mit entsprechenden politischen Maßnahmen angehen kann und muss. Das sind keine Gründe, Menschen pauschal abzuweisen, sondern Signale, die zeigen, was dringend verbessert werden muss. Diese Probleme müssen Politiker angehen, sie dürfen Menschen nicht gegeneinander ausspielen. Natürlich stimmt es auch, dass sich nicht alle Bürger mit einem hohen Maß an Migration leichttun, dass einige sich dadurch bedroht fühlen. Deshalb müssen Politik und Gesellschaft aufklären, Kampagnen starten, die Menschen miteinander ins Gespräch bringen. Deshalb müssen die Medien sich darauf konzentrieren, zu vermitteln, statt reißerische Überschriften zu produzieren. Vieles davon wird bereits getan. Zur Aufklärung seitens Politik und Medien gehört es auch klar zu sagen, dass Kriminelle unter Geflüchteten nicht die Regel sondern eine Minderheit sind und man nicht alle über einen Kamm scheren kann.
Ressentiments oder Ängste dürfen kein Grund sein, humanitäre Werte vor die Wand fahren zu lassen, nur weil man sich um seine Umfragewerte sorgt. Das aber ist genau der Eindruck, der entsteht, wenn die CSU eine Regierungskrise verursacht, weil man über eine Handvoll Flüchtlinge diskutiert, die an den Grenzen zurückgewiesen werden sollen, oder gewisse Unionspolitiker von „Asyltouristen“ und einem “Shuttle“ übers Mittelmeer schwadronieren. Was suggeriert, dass Geflüchtete einen Riesenspaß an der Überfahrt haben und sie ein einziges Vergnügen ist. Symbolpolitik nennt man das.
Wer den Vertretern von fast allen Parteien in den vergangenen Wochen zuhörte, der konnte den Eindruck gewinnen, dass viele Bürger in Deutschland sich eine härtere Flüchtlingspolitik wünschen und dass die Stimmung gegenüber Geflüchteten überwiegend negativ ist. Aber ist dem wirklich so, oder ist das nur politische Meinungsmache, die auf die „besorgten Bürger“ zielt? Die monatlichen Umfragen der „Forschungsgruppe Wahlen“ weisen auf ein seit 2016 kontinuierlich konstantes Ergebnis hin, demzufolge 60 Prozent der Bürger der Meinung sind, dass Deutschland den Zuzug von Geflüchteten verkraften könne. Demgegenüber steht eine Erhebung (ZDF-Politbarometer), die eine überwiegende Zustimmung von fast 60 Prozent zum Migrationskurs von Innenminister Seehofer ausweist.
Wie auch immer die tatsächliche Mehrheitsmeinung sein sollte: Ist es nicht Aufgabe von Politikern, ihr historisches Wissen und ihre Intelligenz zu nutzen, um den Menschen klar zu machen, dass wir eine Verpflichtung und auch eine Verantwortung haben, Menschen in Not zu helfen? Sich nicht wie ein Fähnchen im Wind nach einer vermeintlichen Mehrheitsmeinung zu richten, sondern für die Überzeugungen einzustehen, die im Grundgesetz und auch in der EU-Charta festgeschrieben sind? Sich solidarisch zu verhalten, statt kurzfristige Politik zu betreiben, die vielleicht den eigenen Umfragen nützt? Nur so können die Werte, die uns doch eigentlich so wichtig sind – zumindest solange es um unser eigenes Wohl geht – aufrechterhalten werden.
Würden wir nicht auch fliehen?
Und darüber hinaus: Es ist zu leicht zu sagen, dass die europäische Aufnahme von Geflüchteten einzig und allein ein Gnadenakt ist. Wir, die EU, sind mitverantwortlich dafür, dass nicht nur Menschen kommen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, sondern auch sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge“, etwa aus afrikanischen Staaten, die sich mit dem Wunsch auf ein besseres Leben ohne Armut, Demütigung und Perspektivlosigkeit auf den Weg machen. Mit unseren unfairen Handelsabkommen sind wir Mitverursacher des Elends auf dem afrikanischen Kontinent. Und tragen demnach zumindest Mitverantwortung für diese Menschen. Der sollten wir gerecht werden.
Es ist klar: Deutschland und Europa kann nicht jeden aufnehmen, der kommen möchte. Aber was sind 200.000 Menschen bei 80 Millionen Bürgern? Das gleiche gilt für die EU mit ihren ca. 500 Millionen Bewohnern und rund 3 Millionen Asylsuchenden während der Hochphase 2015 – 2016 . Was nicht sein darf, ist, Menschen zu kriminalisieren, die schlichtweg nicht legal einreisen können oder oftmals als Illegale gelten- wegen unserer Regeln. Jeder Grundschüler versteht, dass man faktisch nicht zuerst in Deutschland einreisen kann, wenn die EU-Außengrenzen woanders liegen. Vermutlich findet es auch jeder Grundschüler nachvollziehbar, dass Menschen nicht nur vor Krieg fliehen, sondern auch vor einem Leben in Ländern, in denen Terroranschläge, politische Gewalt oder Armut an der Tagesordnung sind. Würden wir nicht das Gleiche tun?
Festung Europa – nein, danke
Deutschland ist das Land, das EU-weit die meisten Geflüchteten aufnimmt, wir gelten als humanitäre Seele Europas. Das ist gut so, das soll so bleiben, und es gibt viele Menschen die für ein solches Handeln auf die Straße gehen – etwa für die Seenotrettung auf dem Mittelmeer. Aktuell ist sichtbar, wie Europa seine Festung noch höher zieht, wie es sich von seinen Werten immer weiter verabschiedet. Ungarn, Polen, Italien – irgendwann könnte es auch hier soweit kommen. Die AfD zeigt bereits, wie es geht.
Diese Entwicklung gilt es zu vermeiden – in Deutschland und in Europa. Dafür müssen wir uns zu unseren Werten bekennen, im Privaten wie im Öffentlichen, und auch dafür streiten. Gerade wir jungen Menschen sollten dafür eintreten, wenn wir auch noch in 10 oder 20 Jahren in einem Europa leben wollen, das offene Grenzen hat, das sich zu seiner Humanität bekennt und das nicht nur mit sich selbst gerecht umgeht. Ich für meinen Teil möchte lieber in diesem Europa leben als in einer Festung.
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