Zahlreiche Legenden ranken sich um das EU-Förderprogramm „Erasmus“, das von Dauertrinken, wilden Partys und wenig Lernen geprägt sein soll – doch was steckt dahinter? Bevor ich mich selbst zu meinem Auslandssemester aufgemacht habe, fragte ich mich, ob das wirklich alles ist, was Erasmus ausmacht. Nach fünf Monaten Auslandssemester in Spanien weiß ich jetzt, dass Erasmus viel mehr ist und möchte hier mit euch meine Erfahrungen teilen.

Wer ist dieser „Homo Erasmus?“
Erasmus – diesen Namen hat wohl jeder Student schon einmal gehört. Es gibt sie fast in jeder Stadt, ob in der Gestalt eines aktuellen Erasmus, eines Ex-Erasmus oder mittlerweile auch als eines der geschätzt eine Million Erasmus-Babys. Die lokale ESN-Gruppe (Gruppe für Erasmus-Studenten vor Ort) wurde über facebook irgendwann mal angezeigt oder man hat von eskalierenden Erasmus-Parties gehört, zu denen sich kaum ein normaler Student hintraut. Der Erasmus kommt einem auch manchmal Montagmorgens betrunken von einer Party entgegen, während wir gerade auf dem Weg zu einer Vorlesung sind. Der Homo Erasmus ist uns nicht ganz geheuer, doch nach einigen Semestern stellt sich die Frage, ob wir selbst einer von dieser besonderen Spezies werden wollen?
Derzeit beantworten in Deutschland diese Frage nur 37 Prozent der Studenten mit „Ja“, obwohl die Voraussetzungen recht einfach zu erfüllen sind – man ist als Student in Vollzeit eingeschrieben, hat zumindest das erste Studienjahr abgeschlossen, Spitzennoten braucht man nicht. Pro Monat bekommt man abhängig vom Zielland bis zu 500 Euro Unterstützung von der EU, fast jede Uni hat eine große Anzahl von interessanten Partneruniversitäten zur Auswahl. Wer sagt schon Nein zu einem Semester Granada, Budapest oder Rom? Sollte für einen trotzdem nichts dabei sein, kann man sich auch selbst eine Uni für das Auslandssemester suchen. Ein Visum ist nicht erforderlich, von den Unigebühren der Gasthochschule wird man befreit, so sehen es die Erasmus-Regeln vor.
Wie bezahle ich den Spaß? – Die Sache mit dem Geld
Nun sind wir Studenten, (noch) keine Millionäre und Hostel, Flüge, Miete, Lebensunterhalt, am besten auch noch viele Reisen – all das hat natürlich seinen Preis. Trotzdem gibt es hierbei ein paar Tricks, sodass es eigentlich für jeden Studenten möglich sein sollte, ein Semester im Ausland zu verbringen. Erstmal sollte man seine Destination mit seinem Budget abstimmen, Großbritannien und Großstädte sind zum Beispiel eher teuer, während man in Ländern im Süden oder im Osten und in kleineren Städten viel günstiger (über)leben kann. Während man im Ausland ist, kann man versuchen sein Zimmer zu untervermieten, zum Beispiel an einen Erasmus-Studenten, und je nachdem was man sich für ein Reiseziel aussucht, sind die Kosten sogar niedriger als in Deutschland. Außerdem wird Auslands-BAföG oft auch Studierenden gewährt, die kein Inlands-BAföG erhalten.
„Komm schon, Erasmus bist du nur einmal“
Genug von organisatorischem Kram, kommen wir zur Sache. Als ich in Südspanien bei über 30 Grad Hitze zwei schwer gepackte Koffer hinter mir herzog –und trotz Sprachkurse nicht viel verstand, kam ich mir auf einmal doch recht verloren vor. Worauf hatte ich mich bloß eingelassen? Auf einmal realisierte ich, dass ich die nächsten fünf Monate in einer andere Umgebung und Kultur verbringen würde, fernab von allem Gewohnten, ohne Freunde und Familie. Aufregend, doch gleichzeitig auch beängstigend –bis ich im Hostel zwei andere Erasmus-Studenten kennenlernte.
Die nächsten beiden Monate waren mit Abstand die besten meines Erasmus. Die ESN-Organisation vor Ort organisierte jedes Wochenende Reisen, unter der Woche gab es immer zwei Mottoparties und andere Get-togethers, bei denen man ständig neue Erasmus-Studenten kennenlernte. Zusammen tranken wir auf Botellónes (Spanisch für Vorglühen) vor, saßen nachts bei Sommertemperaturen auf der Dachterrasse und hörten Reggaeton. Zur Uni ging ich nur wegen meines schlechten Gewissens, auch wenn ich eigentlich fast nichts mitnahm. Hatte ich mal keine Lust auszugehen, hieß es sofort „Komm schon, Erasmus bist du nur einmal!“ Bald kannten die Erasmus-Studenten das Nachtleben der Stadt besser als die Spanier selbst. Soweit zum Klischee. Doch so aufregend die ersten zwei Monate waren, irgendwann ging den meisten das Geld zum Reisen aus und auch die Uni wurde etwas anspruchsvoller. Denn leider gab es doch keinen Erasmus-Bonus, wie ich vorher häufig gehört hatte, und plötzlich fand ich mich mehr in der Bibliothek wieder, als in irgendwelchen Nachtclubs. Willkommen im Alltag, den gibt’s nämlich (leider) auch an spanischen Universitäten.

“Same but different”
Eine Sache, die mit der Zeit immer deutlicher wurde, waren die unsichtbaren Ländergrenzen, die zwischen uns allen bestanden – auch wenn wir in Spanien alle Ausländer waren. Mit Deutschen gab es immer sofort ein Gesprächsthema, mit Franzosen, Belgiern und Engländern war es ähnlich, mit Italienern und Spaniern schwieriger. Es war, als existiere ein mentales Nord-Süd-Gefälle. Es begannen sich immer deutlicher Subkulturen herauszubilden und bald hingen die Italiener, Brasilianer, Deutschen und Franzosen alle in ihren eigenen Gruppen ab und sprachen ihre eigene Sprache, statt sich mit anderen Erasmus-Studenten anzufreunden – auch wenn es natürlich Ausnahmen gab. Ein Grund für diese Gruppenbildung ist sicher, dass man gerade in der Ferne Vertrautheit sucht und es leichter ist, sich in seiner eigenen Sprache zu unterhalten. Für viele der Erasmusstudenten, besonders aus Italien und Frankreich, war es überhaupt das erste Mal nicht bei den Eltern, sondern alleine zu wohnen. Der Beginn ihres Erasmus ist daher wohl mit der „Ersti-Woche“ zu Beginn unseres Studiums zu vergleichen. An das Leben in der Unabhängigkeit sind wir Deutschen meist schon seit einiger Zeit gewöhnt und Erasmus bedeutet daher nicht eine ganz so extreme Umstellung für uns.
Diese nationale Abschottung ist also verständlich, trotzdem fand ich es sehr schade, da ich die Erwartung hatte, dass Erasmus-Studenten gerade diejenigen sind, die besonders weltoffen sind. Ich hatte einfach mehr erwartet, mehr europäisches Denken, nicht nur die immer gleichen oberflächlichen Unterhaltungen, aus welchem Land man kommt und was mein Lieblingsgetränk ist. Die immer gleichen Parties begannen mich ein wenig zu langweilen und ich fragte mich, ob die junge europäische Generation nur immer an die nächste Party, das nächste Botellón denkt. Nur ganz selten bekam ich einen etwas tieferen Einblick. Ich bekam von der Korruption in Italien erzählt, dem Frust darüber, dass das Geld nicht ausreicht, um bei den Eltern auszuziehen, der Wut über schlechte Bildungssysteme, der Müdigkeit über den Unwillen der Politiker etwas zu ändern, die Angst später keinen Job zu finden und dem Frust darüber, dass die guten Jobs nur an Absolventen von teuren Privatunis gehen. In all diesen Dingen spürte ich eine gewisse Orientierungslosigkeit und merkte, dass wir doch nicht so unterschiedlich sind, wie es auf den ersten Blick scheint. Denn unsere Probleme ähneln sich. Die meisten von uns wissen nicht, wo wir in einem Jahr sind, was wir machen werden, wie wir unser Studium weiter finanzieren können. Doch meist spricht man nicht darüber, lebt lieber das Erasmus-Leben der immer gleichen Partys und Unterhaltungen.
Und was kommt danach? Von Erasmus-Liebe und dem Post-Erasmus-Syndrom
Während man im Erasmus-Modus ist, denkt man nicht viel über die Zeit nach Erasmus nach. Man lebt eher den Moment, genießt die Zeit. Doch dann kommt der Tag der Rückkehr und ohne sich wirklich darauf einstellen zu können, ist man plötzlich wieder zurück im alten Leben. Nur, dass es das nicht mehr ist. Ein Semester war man fernab von all dem, hat viele Menschen aus der ganzen Welt kennengelernt und neue Freundschaften geknüpft. Vielleicht hat man sich unsterblich in einen netten Italiener oder Franzosen verliebt, doch was bleibt von der Magie, wenn man wieder Zuhause ist? In seinem gewohnten Umfeld scheinen diese beiden Welten auf einmal nicht mehr so gut zusammenzupassen, im Alltag ist kein Platz für die Erasmus-Flamme. Das ist keine einfache Situation.
Wenn ich jetzt an mein Erasmus zurück denke, fühlt sich alles fern an. Es scheint wie ein langer Urlaub gewesen zu sein. Wie ein anderes Leben. Und wenn ich mir jetzt die Fotos anschaue, merke ich, dass ich am Post-Erasmus-Syndrom leide, der Zeit hinterhertrauere, die sich so einfach und leicht angefühlt hat. In der das typisch deutsche Denken an die Karriere, die Verbissenheit eine Aufgabe nach der nächsten zu erledigen, das Streben nach guten Noten und der ständige Druck für eine Weile auf Pause stand. Ich hoffe ein Stück dieser Leichtigkeit in meinem Leben zu erhalten, doch weiß ich, dass das nicht einfach sein wird. Es ist ein bisschen so, wie zwischen zwei Welten zu stehen. Hätte ich noch einmal die Wahl, würde ich Erasmus wieder machen. Definitiv. Ich habe das Gefühl, meine Welt ist ein kleines Stück größer geworden.
Ja zum Abenteuer Erasmus!
Trotz meiner eigenen Zwiespältigkeit gegenüber meinen Erasmus-Erfahrungen, kann ich Erasmus nur empfehlen. Klar, es liegt mittlerweile im Trend, sein Auslandssemester in Südostasien, Kanada, Australien oder Südafrika zu machen. Etwas Besonderes ist das Auslandssemester nicht mehr, schon gar nicht, wenn man in Europa bleibt. Doch ich finde Europa hat mehr als genug zu bieten: wir haben 28 verschiedene EU-Staaten, 150 verschiedene Sprachen, historische Städte, die verschiedensten Kulturen auf kleinstem Raum. Auch sollte man sich nicht von dem Ruf von Erasmus abschrecken lassen, denn jeder kann sein Erasmus so gestalten wie er möchte. Man kann sich auch abseits der Erasmus-Organisationen halten, ich kenne auch einige, die nur mit Spaniern abgehangen haben oder mit ihrer eigenen Gruppe von Freunden.
Natürlich ist es super, wenn man sich alle Credits der Gastuniversität anerkennen lassen kann, aber auch wenn das nicht geht, lohnt es sich. Viele deutsche Studenten neigen durch den Druck, den das deutsche System uns macht, durch das Leben zu rasen: Abi mit 18, Bachelor mit 21 und mit 22 sollte man den Master in der Tasche haben. Doch es ist in Ordnung, sich mehr Zeit nehmen. Eine neue Sprache zu erlernen, in einem anderen Kulturkreis zu leben, selbst an der Erfahrung zu wachsen. Und auch auf dem Lebenslauf sieht Auslandserfahrung bekanntermaßen gut aus. Zudem existiert die europaweite Erasmus-Community ESN, die den Kontakt von Ex-Erasmus aufrechterhält und Job-Angebote speziell für Ex-Erasmus postet. Kooperation steht im Vordergrund, so haben zum Beispiel ehemalige Erasmus-Studenten die Online-Plattform „Cafébabel“ gegründet. Einige Ex-Erasmus werden in der ESN-Organisation vor Ort aktiv. Wie immer, wenn man seine gewohnte Umgebung verlässt, wird man selbstbewusster, lernt vieles dazu, auch wenn zunächst unbewusst. Also, traut euch raus aus der Komfort-Zone!
Wichtig ist, sich vorher zu informieren, Erfahrungsberichte von ehemaligen Erasmus lesen und sich darüber im Klaren zu sein, was man möchte. Sei es, eine Auszeit zu nehmen, viel zu reisen, eine neue Sprache zu lernen, auf eine Universität mit einem tollen Kursangebot zu gehen – all das ist möglich. Wenn man das macht, kann man eigentlich nicht enttäuscht werden. Und man wird auch ein Teil der Erasmus-Community, für die gilt „Once Erasmus, always Erasmus.“

Bezueglich “Sollte für einen trotzdem nichts dabei sein, kann man sich auch selbst eine Uni für das Auslandssemester suchen. Ein Visum ist nicht erforderlich, von den Unigebühren der Gasthochschule wird man befreit, so sehen es die Erasmus-Regeln vor.”
Angenommen, ich moechte an einer irischen oder britischen Universitaet studieren, die nicht Partneruni meiner Uni ist, bin ich dann auch von den Unigebuehren befreit?
hey 🙂 die Frage kann ich dir leider nicht beantworten, da die Studiengebühren in Irland und England gerade für Bachelor-Studenten aber besonders hoch sind, würde ich dir eher raten ein anderes Land zu suchen, Schweden zum Beispiel soll super sein! Aber ich würde einfach mal die Unis anschreiben, kann auch sein, dass du Glück hast 😉
Danke 🙂