Zum Singen und Musizieren braucht man ein Gehör? Falsch gedacht! In der Paulinenpflege in Winnenden leitet Sigrid Andrä einen Gebärdenchor und eine Trommelgruppe. Für Taube und Schwerhörige. Ich habe sie und ihre Musiker bei einer ihrer Proben besucht. Mit gezücktem Stift und meinen Hörgeräten im Anschlag.
Der Geruch von frischer Farbe hängt noch in der Luft, die Wände sind erst seit Kurzem weiß. An den Seiten stapeln sich Pappkartons und Kisten mit gebastelten Tierfiguren aus kunterbuntem Bastelpapier und Fotocollagen auf leuchtend roten, gelben oder grünem Hintergründen. Der kleine Raum soll einerseits zu einem Bastelraum, andererseits zu einem Schulungsraum für Erwachsene umgebaut werden. Heute Abend jedoch trifft sich hier der Gebärdenchor und die Trommelgruppe der Paulinenpflege in Winnenden. Ausnahmsweise. Normalerweise findet die Probe im Gottesdienstraum statt, einem hellen großen Raum mit Holzverkleidung und zwei großen Glasfronten, durch die das Sonnenlicht strömt.
Sigrid Andrä ist nicht nur zuständig für den Chor und die Trommelgruppe, sondern auch für die Taubblindenarbeit im Allgemeinen. In einem braunen, luftigen T-Shirt und beiger Hose räumt sie noch die letzten Stühle beiseite. Die braucht sie erst später, wenn getrommelt wird. Den Chor hatte sie von einer Kollegin übernommen. Gebärdenchöre gab es zwar vorher schon, allerdings nicht in Winnenden. „Das war auch schade für die Bewohner, die musikalisch interessiert waren“, sagt Sigrid. Also erarbeitete sie zusammen mit einer Kollegin ein Konzept für einen Gebärdenchor, der begeistert angenommen wurde. Heute kommen sieben Bewohner zur Probe, die meisten davon Senioren. Aber auch Dagmar, eine Jugendliche von geschätzt 17 Jahren, und eine junge Frau sind mit dabei. Sie freut sich schon auf den Chor, denn wie sie selbst erzählt, singt sie sehr gerne.
Mit den Händen singen, statt mit der Stimme
Während sich die Teilnehmer in zwei Reihen aufstellen, legt Sigrid eine CD ein. Das macht sie, weil oft auch Schwerhörige den Chor besuchen und die Musik dann hören können. Zum Schluss stellt sie noch einen pinken Notenständer auf und schlägt einen kleinen Ringordner mit Liedtexten auf. Das passende Lied zum Text dazu auf der CD noch rausgesucht, auf Play gedrückt und schon erschallt ganz laut ein christliches Poplied. Bei der Auswahl der Lieder bevorzugt Sigrid Kirchenlieder christlich angehauchte Lieder oder Volkslieder. Die Kirchenlieder nimmt sie hauptsächlich deswegen, weil die Paulinenpflege selbst eine christliche Einrichtung ist. Die Volkslieder hat sie mit hineingenommen, „damit auch etwas eher Weltliches mit dabei ist“.
Sowie das Lied beginnt, geht Sigrid hinter ihrem Notenständer in Position. Ihre Beine stehen locker hüftbreit auseinander und die Arme sind an der Hüfte angewinkelt. Beginnt der Gesangsteil im Text, übersetzt Sigrid mit Hilfe des Liedtextes auf ihrem Notenständer und der Musik aus dem Player das Lied, beziehungsweise den Liedtext, in die Gebärdensprache. Führt man alle Finger ausgestreckt zum Mund und wieder weg, sagt man in der Gebärdensprache zum Beispiel ‘Danke’. Die Teilnehmer beobachten Sigrid’s Bewegungen und gebärden diese dann einfach nach. Auf diese Weise singen die Taubstummen mit ihren Händen.
Hörende Teilnehmer, wie Dagmar, lassen sich nicht davon abhalten, den Text auch mit ihrer Stimme lauthals mitzusingen. Die Gebärden ahmt sie mit weit ausgestreckten Armen und großen Bewegungen nach. Ihre Bewegungen wirken, als wolle sie den ganzen Raum mit ihren schlanken Armen umfassen. Häufig singt sie zwar nur einzelne Worte oder Silben, aber das Funkeln in ihren großen dunklen Augen und ihr Lächeln, wenn sie den Mund weit öffnet um zu singen, zeigen, wie viel Spaß Dagmar das Singen macht. Auch Harald, ein etwas älterer Herr mit faltigem Gesicht und weißem Haar, singt öfters ein paar Silben oder einzelne Wörter mit. Zwar sind seine Bewegungen nicht ganz so groß und ausschweifend wie die von Dagmar, aber auch er hat beim Singen ein kleines Lächeln auf den Lippen.
Auch die anderen, die nicht mitsingen, haben sicherlich ihren Spaß, auch wenn sie gerade mit konzentriertem Blick auf Sigrid vielleicht ein wenig missmutig wirken. Der einzige, der nur halbherzig ab und an mit gebärdet, ist Wolfgang. Wolfgang, von allen Wolfi genannt, sitzt auf einem Holzstuhl neben den anderen und schaut eher gelangweilt als interessiert zu. „Ja was isch denn los mit dir, Wolfi?“, fragt Sigrid Wolfi, der in einer grauen Stoffhose mit Hosenträgern und einem rot-weißen T-Shirt mit Collegeaufdruck als Antwort nur mit den Schultern zuckt.
Vibrierende Räume und rauschende Hörgeräte
Nach vier Liedern ist die Chorprobe vorbei und Zeit für die Trommelgruppe. Die Stühle, die vorher zur Seite geschoben wurden, werden jetzt zu einem Stuhlkreis zusammengestellt und die Trommeln unter dem Tisch mit den Farbspritzern hervorgezogen. Jeder Teilnehmer nimmt sich eine der Trommeln und setzt sich in den Kreis. Die einzigen, die keine Trommel bekommen, sind Dagmar und Wolfi. Aber nicht, weil es zu wenige gibt. Dagmar hat sich eben eine große Cachon ausgesucht, eine so genannte Kistentrommel, auf die man sich drauf setzt und mit der Hand auf eine Holzplatte schlägt. Und Wolfi will einfach keine Trommel, sondern lieber einen Schellenring haben. Den Schellenring bewegt er dabei wie in einer Art Dreieck: Zuerst schlägt er ihn in seine linke Hand, dann auf den Fußballen und zum Schluss auf die linke Ferse. Ganz ohne Rhythmusvorgabe dürfen die Teilnehmer trommeln, wie es ihnen gefällt.
Die Hände der Teilnehmer klatschen mit so einer Wucht auf das gespannte Trommelfell, dass der kleine Kellerraum geradezu von den wuchtigen Schlägen erfüllt wird. Ich spüre, wie der Holztisch, an dem ich meine Notizen mache, unter meinen Armen vibriert. Die Begeisterung der taubstummen und schwerhörigen Trommler ist so groß und laut, dass die Mikrofone in meinen Hörgeräten bei jedem einzelnen Trommelschlag rauschen, weil sie übersteuern.
Dabei kam das Trommelangebot eher zufällig zustande. Im Laufe der Zeit bemerkte Sigrid nämlich, dass „das lange Gebärden und das ständige Stehen für die Teilnehmer anstrengend und auch ein wenig langweilig wird.“ Also brachte sie eines Abends ein paar Musikinstrumente zur Probe mit, darunter auch eine Trommel, die jeder Teilnehmer unbedingt haben wollte. „Vermutlich, weil sie die Vibrationen beim Trommeln gespürt haben. Ich denke, dass genau das sie so begeistert hat“, erzählt Sigrid. Daraufhin besorgte sie sich von dem Budget, das ihr zu Verfügung stand, weitere Trommeln und erarbeitete mit Kollegen ein Konzept.
Wie läuft ein Elefant?
Doch es wird nicht nur wild drauf losgetrommelt: Es werden auch Namen getrommelt. Dabei wird der Vorname in seine Silben zerlegt und anschließend wird pro Silbe einmal auf die Trommel geschlagen. Aber auch Begriffe und Tiere werden getrommelt. Bei einem Elefanten stellt Sigrid zum Beispiel die Frage: Wie läuft denn ein Elefant? Antwort: Ein Elefant macht beim Laufen große, schwere Schritte. Also hebt jeder seine Hände weit nach oben und schlägt mit der flachen Hand kräftig in die Mitte seiner Trommel. BOMM. BOMM. BOMM. BOMM. Besonders Harald strahlt wie ein kleiner Junge, wenn er mit der Trommel Elefanten laufen lässt. Am Ende der Probe schnappt sich jeder eine Trommel und in nur einem Rutsch sind alle Trommeln aufgeräumt. Sigrid räumt noch schnell den Player, ihre Notenblätter und den pinken Notenständer zusammen – und schon sieht der Raum beinahe genauso aus, wie zu Beginn der Probe. Der Farbgeruch hat sich verflüchtigt. Das Kribbeln auf der Haut und die wuchtigen Trommelschläge im Herzen bleiben.
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