Ein türkischer Auswanderer versucht im Deutschland der 80er Jahre anzukommen. Er will sich einfügen, eingliedern, etwas aufbauen. Seine Laufbahn ist gespickt mit Gegensätzen. Seine Wandlung vom Hippie zum Gefängnismitarbeiter ist dabei nur eine. Bald aber stellt sich für ihn die Frage: Wer integriert hier eigentlich wen? Eine Reportage von Leonard Proske und Timo Steffens.
Augusta Victoria. 1.200 Meter unter der Erde. 40 Grad. Pausenraum. Zeit für die wichtigen Dinge des Lebens. Mustafa Calikoglu ist vertieft in seine Zeitung. Dicke Schweißperlen bahnen sich langsam ihren Weg von den pechschwarzen Locken über die staubbedeckte Stirn in Richtung Auge. Er blinzelt. Wie in einer Endlosschleife fährt er mit dem Löffel durch den Milchkaffee, der vor ihm steht. „Warum bist du hier?“, fragt ihn ein älterer Kumpel von rechts – auf Türkisch. „Zum Zeitung lesen“. „Aber warum bist du dann hier?“ Die Antwort ist Geld, doch das Ziel ist es nicht. Eigentlich ist Mustafa zum Studieren nach Deutschland gekommen. Doch die Geldnot hatte ihn vor Jahren aus dem Hörsaal gezwungen und in die Zeche getrieben. „Du musst weg hier. Geh! Studiere! Wenn du jetzt nicht gehst bist du in 30 Jahren noch hier – schau mich an.“
Schweinebucht
Langsam und in bemühter Gleichmäßigkeit gießt Mustafa das dampfende Wasser aus der gebogenen Ausgusstülle in den zur Hälfte mit gemahlenen Bohnen gefüllten Filter. Er liebt den herben Duft von frischem Mokka, der in der Schweinebucht zum beliebtesten Getränk geworden ist. Es ist Frühstückszeit. Auf der langen Massivholztheke stehen neben Kaffee auch frisch gemolkene Milch, selbstgemachte Butter und Käse, Gemüse aus dem eigenen Garten, Brot und Eier – alles was der Hof zu bieten hat. Am Tisch versammelt sitzen die elf Personen, die sich mit dem Bauernhof in Morsum einen Traum erfüllt haben. Weg aus dem Recklinghäuser Antifa-Café. Hin ins niedersächsische Niemandsland.
Die Zeche liegt nun schon zwei Jahre hinter ihm. Zweimal die Woche pendelt er nach Bremen, er studiert Sozialpädagogik. Manchmal bringt er seine Kommilitonen mit auf den Hof, am Lagerfeuer werden die nächsten Seminare vorbereitet. Dein und Mein gibt es hier nicht – eine Kasse, eine Gemeinschaft und viel Tatendrang. Mustafa, weder Käser, Töpfer oder Schreiner, kümmert sich um 30 Hühner und neuerdings auch um sein Hof-Café. Die Langeweile hatte ihn auf diese Idee gebracht. Sein Fuß wippt im Takt der Musik – bei kurdischem Jazz kann er nicht anders. Doch nicht nur die Musik sorgt für orientalisches Flair. Neben hölzernen Tischen und Stühlen gibt es auch Sofas in dem ehemaligen Schweinestall. Beim Frühstück wird nun die kommende Woche besprochen. Zehn Deutsche und ein Türke, oder vielmehr sieben Erwachsene und vier Kinder – für Mustafa gibt es keinen Unterschied.
Semaver im Knast
Im offenen Treff der JVA Bochum kommen die meisten seiner Schützlinge vom Bosporus. Zugehörigkeit spielt hier zwar keine Rolle, doch der türkische Tee hat Tradition. In u-förmiger Tischformation sitzen die dreißig Teilnehmenden, die raus dürfen, zumindest für zwei Stunden. Jeden Dienstag zwischen 16 und 18 Uhr fällt das Ticken der großen Uhr an der Wand nicht so auf wie sonst. „Kaffee?“, Mustafa schenkt den drei Männern im Overall seinen türkischen Mokka ein. Einmal die Woche füllt er den eintönigen Gefängnisalltag mit Leben. Zu Gast sind lokale Schriftsteller, Maler, Sänger und auch Anwälte, denn juristische Hilfe kann und möchte er nicht bieten. Trotzdem ist der Sozialpädagoge hier ein gefragter Mann. Beispielsweise wenn es um die Auswahl des richtigen Kindergartens oder der Schule geht. „Ich bin gelassen, geduldig und ein guter Zuhörer“, Eigenschaften die seine nicht-deutschen Freunde provozieren, kommen ihm hier wohl doch zugute.
„Mustafa, ich will zurück in die Türkei, kannst du mir helfen?“ Eine Frage, die ihm noch nie in den Sinn gekommen ist. Schon mit 17 war ihm klar, dass er in Deutschland sein Leben verbringen will. Die Werte und die Freiheit der Demokratie sind für ihn wichtiger als jede verringerte Haftzeit. Heimat ist für ihn das Ruhrgebiet. Auch deswegen ist er nach seinem Studium hierher zurückgekehrt.
Der dritte Februar 1980, Mustafas Reise beginnt. Mit einem Gastarbeiter aus Trabzon, einer Provinz im Nordosten der Türkei, fährt er zum Flughafen in Istanbul. Ihm ist klar, er wird nicht wieder kommen, sondern sein Leben dort verbringen, wo er sich und seine Gedanken verwirklichen kann. „Die Kurden waren und sind ein Volk ohne Menschenrechte“ und Mustafa braucht ein Land, in dem jedes Volk die gleichen Chancen hat.
Ismael
Ismael Gül, ebenfalls Student, ebenfalls Türke, ist ein Vorbild für den 18-jährigen Mustafa. Er nimmt ihn überall hin mit, lehrt ihn das Radfahren, schenkt ihm Selbstvertrauen. Er fährt vor, singt dabei während ihm der Wind am Kanal durch die kurzgeschorenen Haare bläst. Hinter ihm Mustafa, der sich eher schlecht als recht auf seinem verrosteten Hollandrad halten kann, die langen Locken hindern seine Sicht. Es ist seine erste Fahrradtour. „Was ist das für ein Lied?“ fragt Mustafa verwirrt. Die Melodie ist ihm bekannt, doch vom Text versteht er kein Wort.
„Das liegt daran, dass es kurdisch ist“, erklärt Ismael, der in Istanbul im gleichen Viertel wie Erdogan aufgewachsen ist. „Meine Eltern sind Kurden und ich bin Alevit“ schockiert er Mustafa, der glaubte, seinen Freund zu kennen. „Zum Glück sind wir nicht mehr in der Türkei“, denkt er und erinnert sich an seine ultranationalistische Familie und ihren Tonfall, in dem sie über Juden und Kurden sprachen. Er hat aufgegeben, sie von einem anderen Weltbild überzeugen zu wollen, hielt es nicht mehr aus, Tag ein, Tag aus mit solchem Gedankengut konfrontiert zu werden. Als überzeugter Atheist kann er diesen Denkweisen nichts abgewinnen.
Heute ist Mustafa 53, er sitzt auf der Terrasse eines Bochumer Cafés. Die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, rührt er seinen Cappuccino so lange, bis Espresso, Milch und Schaum eins geworden sind. Vor ihm aufgeschlagen liegt ein Artikel über die Kurdenverfolgung. Aus den pechschwarzen Locken sind inzwischen graue Haare geworden, sein Blick ist stets skeptisch. Ein stoppeliger Dreitagebart umrandet die schmalen Lippen. Erst wenn er lacht, erkennt man den Grund für die tiefen Falten um seine Augen. Das lila Polohemd von s.oliver beschreibt ihn besser, als es ein Haus oder Auto je könnte. Die Mischung aus Eleganz und knalliger Farbe macht ihn aus. Er will weitermachen, in fünf Jahren noch bezahlt bei der AWO, während seiner Rente dann ehrenamtlich. Er ist angekommen, zufrieden.
Fahad Amin
Wer kann immer anderen helfen ohne Müdigkeit zu bekommen heutzutage ist sehr selten
Liebe Grüße