Seitdem wir denken können, suchen wir nach den passenden Worten. Doch Sprache ist so viel mehr als Subjekt, Prädikat, Objekt. Durch sie begreifen wir uns und andere – von befreiender Wahrheit für alle kann dabei aber nicht die Rede sein.
Wir hauchen Dingen und Menschen Leben ein, indem wir ihnen einen Namen geben. Wir hauchen unserer Persönlichkeit Leben ein, indem wir uns nach außen darstellen, uns erklären und versprachlichen. Und wir hauchen unserer Gesellschaft Leben ein, indem wir diskutieren, streiten, Kompromisse finden und uns versöhnen. All das tun wir mit der Hilfe von Sprache. Mit ihr sprechen wir uns frei. Doch das Paradoxe: Führt sie auf der einen Seite hin zu Individualität und Freiheit, führt sie auf der anderen Seite hin zu Vorurteilen und Schubladendenken.
Denn Sprache hat Macht. Für den ein oder anderen klingt das zunächst sonderbar, ist Sprechen doch eher selbstverständliches Alltagswerkzeug. Man spricht, ohne groß darüber nachzudenken. Worüber auch, schließlich ist es ganz normal, dass wir sagen was wir denken.
Sprache wirkt: auch zwischen den Zeilen
Andersherum kann Sprache auch zeigen, wie wir denken. In jedem Satz, in jedem Wort liegt Bedeutung, und so verlieren wir schnell aus den Augen, was wir da eben sagen. Wir übernehmen Ausdrücke von anderen, wir beschreiben so, dass wir verstanden werden, nach ungeschriebenen, aber uns allen bekannten Regeln. So belebt Sprache unsere Vorstellung von Dingen und Menschen. Und hier versteckt sich Macht.
Dafür sensibilisiert das Buch „Sprache und Sein“. Die Autorin Kübra Gümüşay spricht aus, was oft nur zwischen den Zeilen mitschwingt, viele nicht hören und schon gar nicht sagen wollen. Diskriminierung, Hass, Rassismus – all das wird ausdrücklich durch Sprache.
Es geht darum, wie wir mit anderen sprechen, ihnen zuhören und über sie sprechen. Genauso wie um das, was wir nicht aussprechen
Um dem Thema endgültig seinen trockenen Zugang zu nehmen, und dabei die räumliche Vorstellungskraft herauszufordern, hier ein kleines Gedankenexperiment aus dem Buch:
Stelle Dir vor, Sprache sei ein riesiges Museum. Dort befinden sich zwei Gruppen von Menschen: „die Benannten“ und „die Unbenannten“. Für Letztere ist es selbstverständlich, ohne Einschränkungen jeden Raum zu besuchen. Sie haben das Gebäude selbst gebaut, sie entsprechen der, in der Gesellschaft gültigen Norm, können sich frei bewegen und handeln. Sie sind der unauffällige Standard und deswegen „selbst-verständlich“.
Aber dann sind da diejenigen, die nicht selbstverständlich sind. Sie entsprechen nicht der gesellschaftlichen Norm, sie sehen anders aus, verhalten sich anders. Das erzeugt Unsicherheit unter den Unbenannten. Um sie zu verstehen, suchen sie nach Merkmalen, die die Benannten beschreiben und so für sie verständlicher machen. Man könnte auch sagen, sie sortieren sie nach Gruppen, stecken diese in Schubladen mit Namen. Sie sehen nicht mehr den Einzelnen, sondern nur noch das Kollektiv. „Das ist der Moment, in dem aus Menschen Benannte werden. Indem Menschen entmenschlicht werden“, so Gümüşay.
Entmenschlicht, das ist ein starkes Wort, denn es wird das abgesprochen, was den Menschen ausmacht: seine Individualität. Ab da sind sie nur noch eine*r von vielen, wie „Die jüdische Frau. Der Schwarze Mann. Die Frau mit Behinderung. Der Geflüchtete. Die Homosexuelle. Die Transfrau. Der Gastarbeiter.“
Mächtig wird Sprache dann, wenn die Macht nicht gleich verteilt ist
Kollektivnamen zu benutzen erleichtert die tägliche Kommunikation, jeder macht das ein Stückweit. Ein einziges Wort reicht aus, um eine Person so zu beschreiben, dass jeder weiß, wer gemeint ist. Wie diese Person aussieht, sich verhält, denkt. Unsere Erwartungshaltung ist somit abhängig von Wörtern – wohlgemerkt von Bezeichnungen, die Menschen über andere geschaffen haben.
Spürbar wird das dann, wenn Erwartungen nicht übereinstimmen. Manchmal wird man überrascht von einer Person, wie sie aussieht, sich verhält, denkt – auch wenn man gar nicht weiß, warum. Kommt Dir das bekannt vor? Das können Vorurteile gewesen sein, die in deinem Kopf herumgespukt haben und dir lange nicht als solche bewusst waren. Prinzipiell versucht jede*r das zu wahrzunehmen, was der eigenen Vorstellung entspricht, so die Theorie der kognitiven Dissonanz. Demnach suchen wir, unbewusst aber doch gezielt, bei unserem Gegenüber nach den Eigenschaften, die wir von ihm erwarten. Sonst entstehen unangenehme Spannungszustände, die der Mensch aus dem Weg räumen und tunlichst vermeiden will. Du möchtest sehen, was du denkst, du stellst die Fragen, mit deren Antworten du bereits rechnest, sonst müsstest du schließlich dein Denken hinterfragen.
Doch wie macht man Sprache begreiflich? Auch wenn es sich viel leichter anhört, als es ist – durch freies Sprechen
Das klingt komplizierter als es ist, wenn man es sich an einem Beispiel von Kübra Gümüşay persönlich ansieht: Die Autorin, die sich selbst als Sprachrohr mehrerer Kategorien sieht, berichtet von frustrierenden Erfahrungen, in denen sie einer höheren Macht ausgeliefert zu sein schien. Sie will sich und ihre „Kategorie” erklären, die Grenzen des Sagbaren lockern und in Worte fassen, wie sich das anfühlt. Frei Sprechen ist das Zauberwort, das Schubladen öffnen und Stereotype menschlich machen könnte.
Doch auf diesem Weg hat sie frustrierende Erfahrungen gemacht. Zum Beispiel, als im Raum stand, sie als Gast in eine Fernsehtalkshow einzuladen. Daraus wurde schließlich nichts, denn ihr Thema und ihr Anliegen passte einfach nicht gut genug zu der Vorstellung, die die Öffentlichkeit erwartete. Ihre persönliche Qualifikation spielte dabei nicht die entscheidende Rolle. „Wir können hier keine Frau mit Kopftuch sitzen haben, ohne dass sie über ihr Kopftuch spricht“, habe es geheißen.
Sie irritiert, weil sie nicht dem entspricht, was sie aufgrund ihrer Merkmale, ihrer Kategorie, zu sein hat. Fragen dazu darf sie gerne beantworten, aber weiteres passt nicht in den erwünschten Rahmen. So wird lieber jemand anderem das Wort erteilt, der mehr der Norm entspricht. Aber ist es nicht gerade wichtig, dass alleine die fachlichen Kompetenzen in so einem Falle entscheiden? Im Umkehrschluss: Wenn Kopftuchträgerinnen ausschließlich über ihr Kopftuch sprächen, oder Homosexuelle nur dann öffentlich das Wort ergriffen, wenn es einen aktuellen Anlass der Homophobie gibt, dann verzerrt das doch die öffentliche Wahrnehmung. Noch schlimmer, es bestätigt die Merkmale ihrer Kategorie – und so werden Vorstellungen und Vorurteile bekräftigt.
Glaube nicht alles, was du denkst
Freies Sprechen beginnt mit freiem Zuhören. Das ist schwer, denn eigene Vorstellungen über das Gegenüber sind schon da, bevor das Gespräch beginnt. Dadurch, dass wir Dinge in Schubladen stecken, nehmen wir ihnen den Raum sich zu entwickeln und zu entfalten. Wir nehmen ihnen auch die Möglichkeit, sich mit ihrer bunten Persönlichkeit zu zeigen und drücken ihnen den Stempel des Absoluten auf. Facettenreich, das ist es, wie wir auch von anderen wahrgenommen werden wollen. Zwar mit einzelnen Merkmalen, aber keiner übergestülpten Schublade.
Vielleicht nehmen wir Sprache als selbstverständlich auf die leichte Schulter. Wir sind uns ihrer Macht und Bedeutung und damit unserer eigenen Verantwortung nicht bewusst. Das zu hinterfragen ist ein langwieriger Prozess, der Mut und schonungslose Konfrontation mit sich selbst fordert. Perfekt ist nicht möglich, auch das gehört zum Menschsein. Doch Wachsamkeit beginnt im Verborgenen, auch hier versteckt sich Macht. Wagen wir also den Schritt und beginnen „frei zu sprechen“. Gemeinsam können wir eine buntere, facettenreichere und offenere Welt schaffen.
Kübra Gümüşays Ideen könnten noch viele Artikel und Gedankengänge füllen. Wenn das auch nur ein sehr kurzer Abriss dessen ist, genug für heute. Das Thema muss etwas sacken, damit man sich auf diese Art des Denkens einlassen kann – und anschließend das Sprechen formt.
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