Unsere Autorin Frieda spricht mit Markus*, der auf einem langen Weg der Selbstfindung immer wieder in Konfrontation mit seinen Eltern gegangen ist. Authentisch berichtet er von seinen Krisen, Vorwürfen und wie er schließlich eine mutige Entscheidung treffen musste.
* Name wurde von der Redaktion verändert
Der Artikel handelt von psychischen Leiden. Wenn du selbst davon betroffen bist, entscheide, ob du wirklich weiterlesen möchtest. Am Ende des Artikels findest du mögliche Hilfsangebote.
Lieber Markus, du hast berichtet, dass du schon öfters kurz vor einem Kontaktabbruch mit deinen Eltern standest. Willst du erzählen, wie es dazu kam?
Markus: Ich bin, emotional vernachlässigt, in einem gewaltsamen Umfeld aufgewachsen. Ich wurde zwar mit Materiellem versorgt, aber alles, was meine sonstigen Bedürfnisse, Gedanken und Gefühle anbelangte, war ich auf mich alleine gestellt. Ich kannte kein Empfinden von Geborgenheit oder geliebt und angenommen zu sein. Von klein auf kämpfte ich ums Überleben in dieser Konstellation mit meinen Eltern.
Das heißt, du konntest dich in keiner sicheren Umgebung entwickeln und deinen eigenen Lebensweg finden?
Markus: Ja, genau. Ich wollte schon sehr früh von zu Hause abhauen. Nach dem Abitur wollte ich so weit weg wie möglich. Als kleines Kind habe ich schon gerne meine Koffer gepackt. Nur traute ich mich nie, wegzugehen.
Konntest du dann nach dem Abitur dein eigenes Leben aufbauen?
Markus: Da fingen erst richtig meine Probleme an! Ich kam gar nicht zurecht, weder mit anderen Menschen noch mit meinem eigenen Leben. Ich hatte tiefe Depressionen, wollte mir mehrfach das Leben nehmen und vagabundierte mehr oder weniger herum. Ich kam mir vor wie ein Waisenkind in der weiten Welt.
Obwohl du dachtest, dass dein erwachsenes Leben ohne Eltern besser wird, hast du entdeckt, dass das eine Lüge war?
Markus: Ja, das war eine große Enttäuschung. Ich hatte gehofft, dass ich nicht mehr den Problemen ausgesetzt wäre, die ich von zu Hause kannte. Die Wahrheit war aber, dass ich alle meine Probleme mitnahm, denn sie waren bisher nicht gelöst. Das Schlimme war, dass ich immer wieder in größere Nöte hineinkam und wieder zu meinen Eltern zurückziehen musste, weil ich sonst keine Wohnung fand. Da stellte ich wieder fest, wie ich nie gelernt hatte, in der Welt klarzukommen. Ich kam mir wie ein kleiner Junge vor.
Das heißt, du wurdest dort wieder mit den alten Problemen und Wunden konfrontiert?
Markus: Das alte Spiel ging weiter. Alle nahmen wieder ihre Rollen ein und es fühlte sich jeden Tag wie ein innerliches Sterben an. Da ich aber immer noch keine eigene Wohnung fand, ohne geregeltes Einkommen, akzeptierte ich es, für eine Weile weiterhin bei den Eltern zu wohnen. So ging ein Marathon an Konfrontationen los mit alten Wunden und schließlich musste ich mir selbst eingestehen, dass ich meine Wurzeln nicht abschneiden konnte.
Du meinst die Wurzeln zu deinen Eltern?
Markus: Ja. Ich lehnte meine Eltern zutiefst ab. So schnitt ich meine eigenen Wurzeln ab. Aber alles, was wir ablehnen, wird nie heilen. Ich tat vor allem auch in der Pubertät immer das Gegenteil von dem, was meine Eltern wollten. Das war meine Art der Rebellion. Dabei fand ich nie meinen eigenen Weg und wurde nicht erwachsen.
Hast du dich daraufhin deinen Eltern wieder angenähert?
Markus: Ja, so gut es ging. Aber vor allem erkannte ich, dass ich ein Teil einer Generationenabfolge war und so setzte ich mich mehr mit der Geschichte meinen Eltern auseinander. Was hatten sie erlebt? Warum verhielten sich so? Welche Wunden hatten sie selbst?
Hast du da gewinnbringende Erkenntnisse auch für dich bekommen?
Markus: In der Tat erkannte ich, dass Menschen immer Beweggründe haben für ihr Verhalten. Davor kam mir das Ganze oft willkürlich vor. Ich erfuhr, dass sie schon sehr früh verstrickt waren in toxische Abhängigkeiten und dass sie selbst voller Schmerzen und Traumata waren.
Da hast du für dich erkannt, dass sie sich nicht besser um dich kümmern konnten in der Kindheit und der Jugend?
Markus: Ich denke, sie gaben das, was sie konnten. Sie konnten nicht trösten, weil sie selbst nie Trost erfahren haben.
Konntest du so deinen Eltern vergeben?
Markus: So schnell ging das mit der Vergebung nicht. Ich war ziemlich lange mit meinen Eltern auf der Anklagebank. Ich fragte mich, warum sie sich keine externe Hilfe suchten oder andere Lösungen fanden. Ich hatte dann auch tatsächlich einen dreijährigen Kontaktabbruch beziehungsweise den Kontakt auf ein Minimum beschränkt. Da bin ich dann wieder aufgeblüht.
Das heißt, du warst stabiler und kamst besser mit deinem Leben klar?
Markus: Anfang ging es mir richtig gut, aber nach diesen drei Jahren wurde ich erneut schwer körperlich krank. So musste ich wieder zu meinen Eltern ziehen, weil ich keine andere Wohnmöglichkeit fand und sogar für eine Weile pflegerische Unterstützung benötigte. (stöhnt)
Wie war es bei dem erneuten Einzug?
Markus: Schwierig, weil ich bemerkte, dass ich irgendwie nicht allein klarkam und das fühlte sich sehr ohnmächtig an. Es fühlte sich an, als käme ich mit weit über meine 30 Jahre hinaus immer noch nicht allein im Leben klar.
Wie ging es für dich dann weiter?
Markus: Ich lernte andere Menschen kennen, mit denen ich zum ersten Mal so etwas wie Liebe und Angenommen-Sein erlebte. Davor hatte ich das immer von meinen Eltern erwartet und verschloss mich vor anderen Menschen. Meine Erwartungshaltung war sehr hoch. Ich hielt sie wie eine Pistole meinen Eltern vor die Brust: „Ihr müsst mich lieben.“ Aber da hätte ich noch lange warten können. Also lies ich mich auf andere Menschen ein und erlebte mit ihnen Geborgenheit.
Das heißt, du hast die Erfüllung von kindlichen Grundbedürfnissen, wie Liebe und Annahme, erst im späteren Erwachsenenalter erlebt?
Markus: Ja. Von der inneren Reife her war ich gar nicht erwachsen. Ich hatte mich nicht altersentsprechend entwickelt. So konnte ich auch nicht im erwachsenen Alter meine Eltern tatsächlich verlassen, um mein eigenes Leben zu leben, weil ich innerlich an sie gebunden war durch meine Anklageschriften.
Was stand in den Anklageschriften?
Markus: So etwas wie: „Ihr habt mich nicht geliebt! Ich kann euch nicht vertrauen! Ihr wolltet mich nicht! Ihr habt mich nicht aufs Leben vorbereitet! Ihr seid schuld, dass ich nicht klarkomme! Wie könnt ihr euer eigenes Kind so im Stich lassen?“
Da konntest du auch kein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln?
Markus: Nein, ich lebte sehr lange im Selbsthass, in der Selbstzerstörung und in der Selbstablehnung.
Veränderte sich das im Laufe der Zeit?
Markus: Ja. Mit viel Therapie und Verständnis für meine Familiengeschichte entwickelte ich ein anderes Selbstverständnis. Ich nahm mutig mein Leben in die Hand und überlegte, wie ich zukünftig mein Leben gestalten wollte. Eines Tages habe ich die Anklageschriften gegen meine Eltern zerstört. Das war eine bewusste Entscheidung. Es durfte einfach nicht mehr wichtig sein, was sie über mein Leben dachten, oder ob sie mich liebten oder mir gaben, was ich brauchte. Ich kümmerte mich fortan selbst darum.
Das heißt, du hast doch noch einen Weg in dein eigenes Leben gefunden?
Markus: Ja, das habe ich, auch wenn es ein sehr langer, steiniger Weg mit etlichen Rückschlägen war. Aber diese Reise hat sich gelohnt!
Was würdest du anderen Menschen raten, die kurz vor einem Kontaktabbruch mit ihren Eltern stehen?
Markus: Also erst einmal kann ein Kontaktabbruch heilsam sein. Auch gerade, wenn Traumatisches passiert ist, bedarf es einen Abstand und Schutzraum. Dann sollte man sich aber bewusst sein, dass die Probleme „mitwandern“ und nicht etwa bei den Eltern zurückgelassen werden. Die Verletzungen geschehen ja meistens im Herzen und das wohnt halt in der eigenen Brust. Manchmal haben mich Illusionen euphorisiert und ich dachte mit dem Kontaktabbruch wird alles besser, was sich als Enttäuschung herausstellte. Gleichzeitig stellte ich mich immer wieder konfrontativ meinen Problemen. Das war oft nervenaufreibend, weil sie mich wieder an die frühkindlichen Verletzungen führten. Das Schmerzhafte will man ja eigentlich gerade hinter sich lassen. Manchmal ist es aber erforderlich, in diese Konfrontationen hineinzugehen, um überhaupt weiterziehen zu können.
Würdest du heute sagen, dass du deine Eltern verlassen hast?
Markus: (lacht) Ja, aber mit einem ganz anderen Verständnis von dem Wort „verlassen“. Für mich bedeutet es heute mehr, mein eigenes Leben leben zu können, ohne auf der Anklagebank mit den Eltern zu sitzen.
Vielen Dank, lieber Markus, für unser Gespräch. Ich wünsche dir alles Gute!
Markus: Danke, Frieda. Dir auch.
Mögliche Hilfsangebote findest du bei der bundesweiten Telefonseelsorge (0800 – 1110111 oder 0800 – 1110222), beim Haus- oder Facharzt, in psychologischen Beratungsstellen bei dir vor Ort, in Kliniken mit psychiatrischer Abteilung, bei Ex-In-Genesungsbegleitern, oder in Selbsthilfegruppen. Bei akuter Lebensgefahr lautet die Nummer 112 für den Rettungswagen.
Petra Grabiger
Eine sehr berührende Geschichte. Ich kann mich gut einfühlen. Auch meine Eltern waren durch den Krieg belastet und hatten Verhaltensweisen mit denen ich meine Schwierigkeiten hatte. Aber sie haben uns zu selbständigen Menschen gemacht, die Selbstverantwortung kannten. Außerdem wurden Emotionen,Kreativität und Naturverbundenheit groß geschrieben. Das waren unsere Ventile, um zu regenerieren. Die innerlichen Verurteilungen ihnen gegenüber kenne ich auch. Diese wurden aber durch positive Verhaltensweisen ausgeglichen.