„Chris – haben Sie es nun getan oder nicht?“ fragt der Journalist Michael Finkel sein Gegenüber. Diese Frage stelle ich mir schon seit einer geschlagenen Stunde, nur das ich nicht wie die beiden in einem kühlen Gefängnisraum, sondern in meinem gemütlichen Kinosessel sitze. Die Antwort auf diese Frage ist die treibende Kraft in dem Film, den ich gerade schaue: „True Story – Spiel um Macht“.
„Chris“ heißt eigentlich Christian Longo und hat seine Frau und seine Kinder ermordet. Das denkt die Presse und auch das Gericht. Aber ist das die Wahrheit? Immerhin gibt es kein überzeugendes Motiv für die Tat und Longo selbst plädiert auf „unschuldig“. Er beschreibt sich als normal und setzt seine Hoffnung auf Michael Finkel, der in Longo die Story seines Lebens sieht.
Rauswurf bei der New York Times
Michael Finkel, seines Zeichens Journalist, hat gerade einen Artikel über Kinderarbeiter in Mali und deren Ausbeutung auf Kakaoplantagen geschrieben. Durchaus ein anspruchsvolles Thema, noch dazu ist sein Arbeitgeber die New York Times. Der Auftrag ist klar: Den Alltag eines einzelnen Jungen zwischen Armut und Zukunftslosigkeit zu beschreiben – in Form einer schockierenden Reportage. Vor Ort findet Finkel allerdings keinen geeigneten Jungen, dessen Schicksal so bedrückend ist, dass er als Protagonist für die Story geeignet wäre.
Aus den Schicksalen verschiedener Jungen, die er während seinen Recherchen kennenlernt, setzt er die Geschichte seines Artikels „Is Youssouf Malé A Slave?“ zusammen. Seine Nachlässigkeit bleibt nicht lange unentdeckt: Kurz nach der Veröffentlichung meldet sich ein Kinderhilfswerk. Es hat heraus gefunden, dass es den beschriebenen Youssouf Malé nicht gibt und fordert einen Widerruf. Michael Finkel verliert noch am selben Tag seinen Job.
Mir stellt sich jetzt die Frage, ob Michael Finkel jemandem Unrecht getan hat. Er ist dem Auftrag seines Arbeitgebers nachgekommen und hat dazu beigetragen, dass sich mehr Menschen damit auseinandersetzen, wie Kinderarbeiter behandelt werden. Lediglich die Komponente der Wahrheit hat er ausgelassen. Die Methode, verschiedene Personen für eine Reportage zu einer verschmelzen zu lassen, ist sicher nicht allzu ungewöhnlich im Journalismus. Manchmal erscheint die Wirklichkeit eben zu komplex, um sie in 5.000 Zeichen zu Papier zu bringen.
Wahrheit vs. gute Story?
Neben seinem Job hat Michael Finkel auch seine Glaubwürdigkeit verloren und seine Karriere scheint beendet. Also spielt die Wahrheit doch eine große Rolle, sogar die entscheidende. Meiner Meinung nach sind Journalisten nur der Wahrheit und ihrem Gewissen verpflichtet. Sie sollen die Wahrheit aufbereiten und jedem zugänglich machen. Dass ein Mensch seine Persönlichkeit einbringt, ist seiner subjektiven Wahrnehmung geschuldet und damit nicht zu verhindern. Aber die Wahrheit lässt dem Reporter keinen Spielraum, etwas der Dramaturgie oder der Zielgruppe halber zu verändern. Die Schwerpunktsetzung beim Schreiben und der Stil lassen dem Schreiber genug Freiheiten für Kreativität und eine eigene Meinung.
Der Leser möchte sich in der Regel auf Basis von Fakten eine Meinung bilden können. Und hier liegt Michael Finkels Fehler: Er zwingt dem Leser seine Meinung (in diesem Fall über Kinderarbeit) auf und lässt durch die verfälschte Wahrheit nicht die Schlüsse zu, die ein Leser bei einem aufrichtigen Artikel ziehen würde. Sein Fehler treibt ihn in die Arme von Christian Longo, dem angeblichen Mörder.
Der erste Berührungspunkt der beiden ist die Tatsache, dass sich Christian Longo auf seiner Flucht immer wieder als „Michael Finkel“ vorstellt. Seit Jahren bewundert er die Arbeit des Journalisten und wählt deshalb diesen Namen nicht willkürlich. Als der wahre Michael Finkel davon Wind bekommt, möchte er ihn zur Rede stellen. Sie vereinbaren ein Treffen im Gefängnis, in dem Christian Longo seit seiner Festnahme sitzt.
Treffen mit einem Soziopathen
Von der ersten Sekunde an ist der Journalist fasziniert und fest entschlossen, mit einem Buch über den Prozess und die Taten von Christian Longo zurück auf die Bildfläche zu treten. Beide beschließen, sich in mehreren Treffen auszutauschen – das Buch darf aber erst nach dem Urteilsspruch veröffentlicht werden. Christian Longo versteht es, sein Gegenüber über seine Schuld oder Unschuld im Dunkeln zu lassen. Eine fast freundschaftliche Partnerschaft entsteht, doch schließlich wird Longo vom Gericht für alle Morde schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt.
Diesmal sucht Michael Finkel hartnäckig die Wahrheit, obwohl sein Buch „True Story: Murder, Memoir, Mea Culpa“ längst auf dem Markt ist. Weiterhin treffen sich die beiden, nun im Todestrakt. Bis heute. Als ich das Kino verlasse weiß ich: Diese Geschichte wird mich nicht so schnell loslassen. Manchmal ist die Wahrheit kaum zu glauben.
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