Ich habe keine Zeit für eine Beziehung, ich kümmere mich in den nächsten Jahren erstmal um meine Karriere. Viele von uns sind wahre Meister im Aufschieben. Was bringt uns dazu und ist das wirklich die richtige Art, zu leben?

Das Leben genießen? Kann ich später auch noch…
Ich habe es schon eine ganze Weile vor mir hergeschoben, einen Artikel über das Aufschieben zu schreiben: Welch Ironie. Der Fachbegriff dafür lautet Prokrastination: Was du heute kannst besorgen, das verschiebe stets auf morgen. Ein guter Freund von mir – er ist Medizinstudent im fünften Semester – hat einmal Folgendes gesagt: „Ich habe bis zum Examen ohnehin kaum Zeit, richtig leben kann ich auch danach.“ Sein Plan war es, bis zum Examen durchzulernen und sich danach erst wieder dem Privatleben zu widmen. Aber nach dem Studium kommt ja erst noch die Assistenzarzt-Zeit… Also das Leben erst wieder richtig genießen, wenn man Oberarzt ist? Vor allem in einer Welt, in der Leistung immer wichtiger wird, ist dies ein grundlegender Konflikt.
Man nennt es die Work-Life-Balance. Arbeite ich zu viel und bekomme meine Freunde und Familie nicht zu Gesicht? Oder arbeite ich zu wenig und werde als Faulenzer bezeichnet, der sein Potenzial vergeudet? Beide Extreme sind nicht wirklich erstrebenswert. Der Film Klick mit Adam Sandler verdeutlicht, wozu uns eine unausgeglichene Work-Life Balance führen kann. Für die, die ihn nicht kennen: Michael Newmans Leben ist ein reines Chaos. Deswegen wünscht er sich eine Fernbedienung, mit der er die Zeit anhalten und vorspulen kann, um Ordnung in sein Leben zu bringen. Am Anfang geht das Konzept zwar auf, aber er neigt dazu, alles zu überspringen was ihn von seiner Karriere abhält, auch Momente mit seiner Familie. Das Leben rast an ihm vorbei, er hat kaum Zeit mit seinen Kindern verbracht und plötzlich sind sie erwachsen. Er ist alt und hat sein ganzes Leben nur gearbeitet und so vieles verpasst.
Wer sich zu sehr beeilt, verpasst das Leben
Jetzt wird der Leser dieses Artikels vielleicht sagen: „Ich bin doch jung, ich habe noch so viel Zeit.“ Das ist auch im Prinzip richtig und niemand sollte hier mit 20 Jahren Panik bekommen. Trotzdem vermittelt uns die Leistungsgesellschaft, in der wir leben, das Gefühl, dass wir möglichst schnell Karriere machen müssen. Ich muss meinen Schulabschluss machen, dann möglichst schnell studieren, um möglichst schnell einen bezahlten Job zu bekommen. Erst dann ist man fertig. Ich selbst bekomme dieses Gefühl vor allem, wenn ich mich in meinem Bekanntenkreis umschaue. Eine Stimme in meinem Kopf sagt: „Du hast noch keinen Studienabschluss. Du bist noch nicht fertig. Du musst dich ranhalten.“
Eine ehemalige Freundin von mir hatte genau diese Art zu Denken bis ins Extreme gesteigert. Einmal kam das Thema Auslandsaufenthalt bei einem Gespräch zwischen uns auf. Für die meisten ist es eine tolle Erfahrung, die jeder einmal gemacht haben sollte und in der man sehr viel über sich selbst und über das Leben lernt. Dieses Mädchen jedoch hat das Ganze von der finanziellen Seite betrachtet: „Wenn du ein Jahr ins Ausland gehst, fängst du ein Jahr später an, zu studieren. Wenn du ein Jahr später studierst, arbeitest du erst ein Jahr später. Und bei einem Durchschnittsgehalt von etwa 3.000 Euro verlierst du durch dieses Auslandsjahr 36.000 Euro.“ Im Prinzip logisch, aber sollte man deswegen ein so fundamentales Erlebnis verpassen?
Auch die Eltern spielen bei diesem Zwang, mit allem möglichst schnell fertig zu werden, eine zentrale Rolle. Hoffentlich fängt das Kind bald an zu arbeiten und auf eigenen Beinen zu stehen. Die Mutter zu Hause wird erst dann richtig aufatmen, wenn ihr Kind einen festen Job und eine Existenzgrundlage hat. Nur mit dem Beruf und der wachsenden Selbstständigkeit kommen immer mehr Verpflichtungen. Man ist mit Haus und Familie lange nicht mehr so flexibel wie früher. Einfach ein Jahr Auszeit machen und die Welt sehen, wird kaum ein Arbeitgeber erlauben. In diesem Moment ärgert sich der eine oder andere, etwas verpasst zu haben, weil er es so eilig hatte. Unsere Gesellschaft ermuntert uns nicht dazu, ein Jahr Auszeit zu nehmen und die Welt zu bereisen. Leistung bringen, das ist das oberste Gebot. Persönliche Träume und Ziele können warten. Wer träumt, wird belächelt. Trotzdem stellt sich mir die Frage: Ob ich jetzt ein Jahr früher oder später mit meiner Ausbildung fertig bin, wird das einen solchen Unterschied machen? In 20 Jahren wird das keine große Rolle mehr spielen. An meine Zeit im südamerikanischen Regenwald werde ich dann aber immer noch denken.
Warum kann nicht heute Dein persönliches Neujahr sein?
Natürlich ist eine Weltreise ohne genügend Geld oder Heiraten ohne den richtigen Partner nicht wirklich machbar. Oft jedoch schieben wir Ausreden vor, die genau den Zielen im Weg stehen, die ohne weiteres realisierbar wären. „Ich höre auf zu rauchen, aber mitten im Semester ist das zu stressig, ich warte bis zu den Ferien. Oder: Joggen gehen, wenn es kalt ist? Nein, da warte ich lieber bis zum Sommer.“
Eine einfache Frage: Gab es schon etwas, was Du immer mal tun wolltest? Wie lange sagst Du dir schon: „Das mache ich irgendwann mal.“, und es ist doch nie etwas draus geworden? Oft werden solche lang gehegten Wünsche und Ziele als Neujahrs-Vorsatz verpackt. Das neue Jahr scheint aus irgendeinem Grund ein guter Moment zu sein, einen neuen Lebensabschnitt beginnen zu wollen. Warum kann der neue Lebensabschnitt nicht jetzt in diesem Moment beginnen? Was hält Dich davon ab, jetzt den Computer abzuschalten und genau das zu tun, was du vor dir her schiebst? Vielleicht endlich wieder mehr Sport machen, mit dem Rauchen aufhören oder ein Buch schreiben? Was auf Deiner To-Do Liste fürs Leben steht, kann Dir niemand sagen, das muss jeder für sich selbst herausfinden. Hoffentlich wird irgendwann der Moment kommen, dass Du diese Ziele in Angriff nimmst. Du wirst feststellen, dass Dir dann ein bestimmte Frage durch den Kopf geht: „Warum habe ich so lange damit gewartet?“
Dieser Beitrag wurde finanziell möglich gemacht durch das Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg. Schaut Euch auch die Homepage an: http://institut-walberberg.de/index.php?cID=1
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