Der Heroinsüchtige aus Berlin Kreuzberg, der an U-Bahnstationen gebrauchte Tickets verkauft, um etwas Geld zu verdienen. Das Mädchen aus einem kleinen Dorf in Bayern, dass von einer Gesangskarriere träumt und zu einem Casting geht. Der Abenteurer, der allein durch’s australische Outback wandert und seine Grenzen neu steckt. Typische Themen einer Reportage. Aber wie schreibt man eine?
Die Reportage gilt als Königsdisziplin im Journalismus. Denn es gilt Talent dafür zu haben, eine runde Geschichte aufzuschreiben. Jedem Journalisten könnte es da wie Faust aus Goethes gleichnamiger Tragödie gehen, der durch die Frage „Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?”, in die Bredouille gerät. Nun sag, wie hast du’s mit dem Schreiben? Kunst oder Handwerk? Das ist hier die Frage. Ein Handwerk kann mal lernen, Kunst auch?
Was genau ist eigentlich eine Reportage?
In einer Reportage wird meistens eine Person, in manchen Fällen auch mehrere, genauer vorgestellt, in dem man deren Geschichte aufschreibt, beziehungsweise erzählt. Der Leser soll ganz nah an das Geschehen herankommen und das Gefühl haben, live dabei zu sein. Er soll einen konkreten und möglichst anschaulichen Einblick in die Lebenslage und Tätigkeiten der vorgestellten Person bekommen, sodass er ihre Gefühle und Denkmuster nachvollziehen kann. Fragen, die man sich als Journalist stellen sollte: Was macht diese Person besonders? Warum will ich diese Geschichte erzählen? Was ist der Konflikt?
Erste Überlegung: Wo soll die Reportage veröffentlicht werden?
Zunächst einmal ist es wichtig zu überlegen, für welches Medium die Reportage geschrieben werden soll und auch, wofür sie vielleicht am Ehesten geeignet ist. Das sollte man sich vorher überlegen, um später vor Ort alle Informationen und Materialien sammeln zu können, die man gerne verwenden möchte. Denn nichts ist ärgerlicher als nachher festzustellen: Hätte ich doch bloß noch einen O-Ton zu jenem Thema gemacht und hätte ich doch noch dieses eine Bild geschossen.
Je nach dem wo die Reportage veröffentlich wird, kann man sich so die Eigenschaften des jeweiligen Mediums zu Nutze machen: Wird die Stimmung in meiner Geschichte vielleicht besonders gut durch ein Video vermittelt oder eher durch eine Bildergalerie? Oder beschreiben die passenden Worte die Stimmung am besten? Wird die Reportage online veröffentlicht hat man natürlich nahezu alle Möglichkeiten: Video, Audio, Bildergallerie, Animation, Text. Einer gedruckte Reportage bleiben „nur” der Text und Bilder.
Rauß da! Vorgehen am Ort des Geschehens
Hat man ein gutes Thema und Protagonisten gefunden geht’s mit der Recherche los. Im Vorfeld sollte man sich natürlich etwas in das Thema einarbeiten um schon mal einige Hintergrundinformationen sammeln, um später vor Ort nicht ganz im Dunkeln tappen.
Was genau ist die Pointe meiner Reportage? Welche Fragen muss ich stellen und auf was muss ich achten um ein live-dabei-sein-Gefühl zu erzeugen?
Alle fünf Sinne sollten beim Leser angesprochen werden, damit er sich noch stärker als Teil des Geschehens fühlt und sich allgemein besser in die Figur hineinversetzten kann. Also: Was ich sehe, höre, spüre, rieche und gegebenenfalls schmecke ich? Inwiefern trägt der Geruch eines Ortes dazu bei, dass der Leser sich diesen noch besser vorstellen kann? Natürlich hat man Online wieder größere Möglichkeiten: Auf einem öffentlichen Platz zum Beispiel, kann das Beschreiben der Geräuschkulisse wichtig sein, um dem Leser eine möglichst genaue Vorstellung von eben diesem Platz zu bieten. Beispielsweise kann man ein Foto von diesem Platz schießen und eine Tonspur darunter legen, die die Geräuschkulisse natürlich noch viel besser widergibt, als Worte das tun würden.
Noch viel wichtiger ist aber: Was sehe ich? Wie verhält sich mein Protagonist? Was drückt seine Körpersprache aus? Inwiefern spiegelt seine Kleidung ihn wieder? Welchen Eindruck vermittelt die gesamte Umgebung? Hier sind Details der Schlüssel: Sie verdichten die Situation und spiegeln oft den Kern wider. Die Dinge, die du hier aufschreibst werden unter Journalisten als “Atmo”, Atmosphäre bezeichnet. Wichtig ist hierbei aber: Deutungen vorwegzunehmen geht nicht gut. Wer dem Leser vorschreibt, was er denken und empfinden soll, macht die Reportage kaputt. Deshalb sollte man unbedingt darauf achten, zu beschreiben und nicht zu deuten.
Im Gespräch mit der Person gilt es, die richtigen Fragen zu stellen. Neben den üblichen W-Fragen, sollte zum Beispiel beantwortet werden, in welcher Lebenslage sich die Person befindet, wie sie sich dabei fühlt, welche Hoffnungen und Ängste sie hat und was die Person denkt und beschäftigt. Dabei darf man auch mal mutig sein und provokante Fragen stellen, um zum Kern der Person oder der Situation vorzudringen. Das Gespräch mit der Person sollte tatsächlich mehr Gespräch statt Interview sein. So hat man bessere Chancen auf so genannte “Golden Quotes”. Sätze, die von der Person selbst gesagt wurden und vielleicht besonders gut seine Persönlichkeit oder Einstellung zu jenem Thema widerspiegeln. Hat die Reportage ein sehr persönliches Thema solltest du besonders auf einen respektvollen Umgang mit deinem Protagonisten achten.
Auf was sonst noch zu achten ist
Neben Atmosphäre sind auch faktische Informationen wichtig, um dem Leser einen fundierten Einblick zu gewähren und um die Situation der Person zu untermauern. Eine Information ist zum Beispiel: „Maria ist 15 Jahre alt. Das Gesangscasting, an dem sie heute teilnimmt, findet in München statt. Außer ihr werden noch circa 300 andere junge Talente antreten.” Die dazu passende Atmosphäre: „Maria sitzt in der großen Eingangshalle. Die Stimmen der anderen nimmt sie nur als monotone Hintergrundgeräusche war. Sie hat die Augen geschlossen. In Gedanken geht sie noch einmal ihren Auftritt durch. Bloß keine Panik, einfach ganz cool sein. Sie muss an die Worte ihrer Großmutter denken: „Mein Mädchen, ich glaub an dich!” Unter Journalisten gesagt: Abwechslung von Information und Atmosphäre machen eine Reportage erst rund. Achte darauf, dass Information und Atmosphäre immer zusammenpassen.
Und jetzt: Schreiben!
Der Einstieg sollte so geschrieben werden, dass der Leser direkt im Geschehen drin ist und sozusagen in die Geschichte reingezogen wird. Wie Wolf Schneider sagt: „Mit einem Erdbeben anfangen und dann langsam steigern”
Ein paar Tipps für’s Schreiben:
- im Aktiv schreiben! Dadurch wird die Situation oder Person greifbarer
- verzichte möglichst auf Adjektive und Adverbien. Oft bringen sie keine neuen Informationen wie zum Beispiel: “Er rannte schnell.” Wenn du zum Beispiel die Kleidung einer Person beschreibst, ist es meist nicht wichtig, ob der Protagonist eine schwarze oder braune Lederjacke trägt. Überlege immer, ob das Adjektiv oder Adverb etwas neues beschreibt und ob es für den Kern der Reportage von Bedeutung ist.
- Sätze mit vielen Nebensätzen sind oft anstrengend zu lesen. Verwende Hauptsätze; die sind meistes kürzer, konkreter und dadurch einfacher zu verstehen.
- keine Phrasen! Phrasen wie: “Das A und O” oder “sich zum Affen machen” sind unschöne Redewendungen, die sperrig und nicht konkret sind. Beschreibe was passiert und greife nicht auf solche Redewendungen zurück.
- Finde einen Schluss, der die erzählte Geschichte abrundet und die Reportage nicht unfertig aussehen lässt. Das kann zum Beispiel ein originelles Zitat des Protagonisten sein, dass die ganze Situation und Geschichte noch einmal deutlich macht.
Mit diesen Tipps sollte klar sein: Schreiben ist Handwerk und kann geübt werden! Suche dir ein Thema und eine interessante Person und probier dich aus!
Ein paar Anregungen für gelungene Reportagen findest du hier:
http://www.tagesspiegel.de/berlin/berliner-u-bahn-unternehmerglueck-im-untergrund/1657416.html
http://www.zeit.de/2012/29/Norwegen-Utoya
http://www.nytimes.com/interactive/2013/04/22/sports/boston-moment.html?_r=1&
Oder hier aus der Schweiz: http://reportagen.com/
Luca
toll