Paris ist die Stadt der Mode, der Liebe und auch die Stadt der Aufklärung. Sie ist seit dem 18. Jahrhundert der Dreh- und Wendepunkt großer Revolutionen, Veränderungen, Ideen und immer am Puls der Zeit. Doch wer gab ihr das stilvolle Gesicht?

„Die Frau ist ein menschliches Wesen, das sich anzieht, schwatzt und sich auszieht.“ Voltaire (1694-1778)
Die Frau ist ein menschliches Wesen, das sich gerne anzieht, soweit gehe ich mit. Was den Rest betrifft, muss sich der gute Voltaire wohl geirrt haben. Paris ist die Geburtsstadt dieses französischen Ausnahmedenkers, Schriftstellers und Aufklärers, der durch seine geistigen Ergüsse dazu beitrug, dass man das 18. Jahrhundert in Frankreich auch als das siècle de Voltaire bezeichnet. Während meines letzten Aufenthalts in Paris spürte ich beim Erkunden ihrer Gassen eher wenig von Voltaires’ Glanzzeit und dem Geiste der Aufklärung. Mal ganz abgesehen von der Tragik, dass der respektable Umgang mit der Frau in vielen Fällen nicht zum Inklusivpaket des Aufklärer-Genies gehörte. Wie ist es sonst zu erklären, dass die größten Köpfe unserer Geschichte, die wir lehren, verehren, auf einen Sockel stellen und ihr Genie nie anzweifeln, eine ganze Reihe der abscheulichsten chauvinistischen „Sprüche“ ihr Eigen nennen dürfen?
Vielleicht wiegen die geistigen und persönlichen Verfehlungen im Vergleich zum schöpferischen Talent dieser großen Männer einfach geringfügiger und erscheinen uns weniger evident. Trauen wir ihnen ein Verfehlen nicht zu oder ist dem Intellektuellen jeder Gedanke schlichtweg erlaubt?
Unsere Zeit ist geprägt von einer nie endenden Gender- und Frauendebatte. Dabei sind die Vorgaben des Grundgesetzes zur Gleichheit von Mann und Frau mehr als eindeutig. Trotzdem fußen unsere abendländischen Traditionen auf dem kulturellen Erbe großer Denker, deren Frauenbild uns manchmal Augen und Ohren zuhalten lassen will.
Ob Kant, Nietzsche, Schopenhauer, Hegel, die französischen Moralisten, und all die weiteren großen Denker, die unsere Kultur prägten, sie alle sprachen der Frau den Intellekt ab. Ein Naturfehler sei sie, ein Nichts, ein bloßes Sexobjekt, ein austauschbares Werkzeug, sie sei Schwachheit und Gift oder einfach nur Inspirations- und Motivationsquelle für die romantischen Stunden. Das Erdachte und Geschriebene breitet sich jedoch aus, wirft seinen Anker und manifestiert sich in der Gesellschaft. Das, was geschrieben wurde, wirkt auch heute noch nach. Das, was wir schreiben, wirkt bereits. Wie schwer wiegt die Verantwortung des geschrieben Wortes? Ein Zwiespalt, in dem ich mich augenblicklich selbst befinde.
Während ich darüber sinniere, packt mich eine unglaubliche Wut bei dem Gedanken, dass ich eines Tages meiner Tochter all diese großen Denker aus einer akademischen, elitären Tradition heraus werde ans Herz legen müssen. Auch wenn das heutige Frankreich und natürlich Europa ohne diese klugen Köpfe ein anderes wäre, stellt sich doch nach wie vor die Frage, wie weit es mit diesem Schrei nach Égalité wirklich gekommen ist.
Paris wird zurückerobert
Das 18. Jahrhundert in Paris war vielleicht das siècle de Voltaire, doch das 21. Jahrhundert ist das der Mode. In den Straßen der Weltmetropole Paris kann man heute Vieles sehen und spüren. Unsicherheit in Form von patrouillierenden Soldaten mit Maschinengewähren. Nationalismus ausgedrückt in den französischen Farben, die jede Sehenswürdigkeit flankieren. Trauer in den niedergelegten Blumen von Menschen, die Menschen verloren haben. Kultur in allem vom Menschen Geschaffenen. Mode als Ausdruck von Kultur. Aber man sieht auch Geschmack und ganz viel Stil im Namen einer Frau – Coco Chanel. Mit der heutigen Kulturbrille betrachtet, war sie eine echte Aufklärerin ihrer Zeit. Und so mussten sich die Aufklärerinnen in Frankreich nicht nur gegen die Vorherrschaft von Kirche und Staat wehren, sondern auch gegen ihre immer noch chauvinistisch anmutenden männlichen Mitstreiter, die sich noch lange auf alte Rollenbilder beriefen und der Frau teilweise nicht das Potential zumuteten, die Aufklärung weiter voranzutreiben. Aber es gab Frauen, die nicht davon abließen, auch den letzten vermeintlichen Aufklärer noch einmal richtig aufzuklären.
150 Jahre nach Voltaire sollte es ausgerechnet eine Frau werden, die der Metropole Paris ihren Stempel aufdrückte und ihr das heutige Gesicht verlieh, indem sie sie zu einer Modestadt erweckte. Man sieht in den Straßen von Paris vieles, doch heute vor allem und trotz allem, den Stil von Coco Chanel. Sie erschuf eine Idee abseits des Prunkes und der Überladung des 18. und 19. Jahrhunderts, die noch fast 100 Jahre später als ungeschriebenes Gesetz gilt. Weniger ist mehr, sagt die Französin, sagte Chanel.
Chanels Schönheitsvorstellungen hatten in erster Linie etwas mit Freiheit zu tun – in hohem Maße mit Bewegungsfreiheit. Eleganz bedeutete für sie, Würde zu besitzen und nach Freiheit zu streben. Ihre Entwürfe elegant-sportlicher Kleidung gab Frauen genau diese Freiheit. Sie machten sie im wahrsten Sinne des Wortes handlungsfähiger. Die Röcke wurden weit und kurz, die Matrosenblusen weich und lang. Die Kleidung schmiegte sich an den Körper, dank des Jerseys, ein Material mit dem Chanel immer öfter experimentierte und der ursprünglich der männlichen Unterkleidung vorbehalten war. Sie ließ sich von Fischern der südfranzösischen Küste zu ihren gestreiften Matrosenblusen inspirieren, die bis heute zu den Klassikern einer stilvollen Garderobe gehören. Der französische Chic ist ohne eine gestreifte Bluse, das kleine Schwarze und den dazugehörigen roten Lippen heute kaum vorstellbar. Gradlinigkeit, Bequemlichkeit, Bewegungsfreiheit und eine gewisse Leichtigkeit einerseits, Verführung und Koketterie andererseits, kennzeichnen ihren Stil.
Im Geiste höre ich jetzt schon alle, die anmerken wollen, dass ein koketter und verführerischer Stil Voltaires‘ Aussage über die Frau eher unterstützt und ihr nicht widerspricht. Doch ist dem wirklich so? Verführerisch und kokett zu sein, widerspricht nicht meiner Selbstbestimmung als Frau. Genauso besteht kein Dualismus zwischen Mode und Intellekt. Stil und Verführung schließen sich nicht aus. Im Gegensatz, sie regen sich an. Röcke, die den Knöchel frei ließen, waren in den 1920er Jahren geradezu eine Provokation. Die Frauen nahmen sich allerdings diese Freiheit und Chanel verhalf ihnen dazu.
Die richtige Antwort auf die Frage ist also das richtige Maß. Und Stil ist nur eine andere Übersetzung für Takt. Bei Chanel durfte nie zu viel nackte Frauenhaut enthüllt werden. Es ging immer um Eleganz, nie um Vulgarität. „Weibliche Nacktheit muss man den Männern mit dem Teelöffel geben, nicht mit der Schöpfkelle.“
An diese Formel halten sich die französischen Frauen eisern. Geschmack muss man sich bewahren und Chanels Geschmack ist zeitlos. Frauen ziehen sich eben an und nicht aus, das wüsste Voltaire heute auch. Die Kulturleistung von Mode zu leugnen, wäre ein wahrlich unaufgeklärter Akt. Doch wie sagte Heidegger: Wer Großes denkt, der irrt auch groß! und wer irrte schon größer als Heidegger.
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