Die meisten Menschen verbringen die Weihnachtszeit zuhause im Kreise der Familie. Es gibt Geschenke, gutes Essen und vor allem Zeit füreinander. Wie sieht die Weihnachtszeit aber aus, wenn man kein Zuhause hat? Eine Reportage aus Berlin.

Es ist später Nachmittag in Berlin. In den Pfützen spiegelt sich die Festtagsbeleuchtung. Das Jahresende rückt näher und draußen ist es alles andere als angenehm. Wind und Feuchtigkeit bahnen sich ihren Weg in das Innere meiner Jacke. Die Füße schmerzen in der Kälte. Das Einzige, was ich gerade möchte, ist so schnell wie möglich wieder ins Warme zu gelangen. Weihnachten steht unmittelbar bevor und soweit man Wetterbericht und Verstand Glauben schenken darf, wird sich der Sommer dieses Jahr kein weiteres Mal zurückmelden. Die Weihnachtszeit werde ich, wie jedes Jahr, in dem Kreise meiner engsten Familie, am Kamin, vor dem dezent aber elegant geschmückten Weihnachtsbaum im Wohnzimmer meiner Eltern verbringen. Wie viele in Berlin lebende Menschen, verlasse ich die Hauptstadt und den Großstadttrubel dafür ein paar Tage in Richtung Heimat. Auch die meisten „echten Berliner“ machen es sich daheim, umgeben von Familie und Freunden, gemütlich.
Nicht alle Mitglieder unserer Gesellschaft haben die Chance, Weihnachten zuhause zu verbringen, denn nicht alle haben eines. Offizielle Statistiken zur Zahl der Obdachlosen in Berlin gibt es nicht. Nach Schätzungen der Deutschen Presseagentur sind es 3.000, der Tagesspiegel schreibt Ende November von bis zu 10.000 Menschen ohne feste Unterkunft. Mit dem Winter beginnt die schwerste Jahreszeit für die Betroffenen. Während sich viele Menschen endlich wieder weiße Weihnachten wünschen, freuen sich diejenigen über jeden Skalenpunkt, den die Temperatur weiter in den positiven Bereich des Thermometers klettert. Welche Bedeutung bleibt dem Fest der Liebe im täglichen Kampf um einen warmen Schlafplatz und gegen soziale Ausgrenzung?
Schönste Weihnachten im Kinderheim
Um der Antwort näher zu kommen, bin ich auf dem Weg zur Bahnhofsmission am Zoologischen Garten. Dort treffe ich mich mit dem Sozialarbeiter Kai Schellenbeck. Seit sechs Jahren arbeitet er für die Berliner Stadtmission und kennt viele der Gesichter, die sich um die Bahnhofsmission tummeln. Mit seiner Hilfe lerne ich Lulu und Jan kennen. Bei einem Kaffee kommen wir ins Gespräch, wobei ich der einzige bin, der wirklich Kaffee trinkt. Die beiden lehnen dankend ab. Lulu ist 22, kommt ursprünglich aus Brandenburg an der Havel und lebt auf der Straße, seit sie 14 ist.
Die ersten Minuten unseres Gesprächs hat sie mit einem Hustenanfall zu kämpfen. Es sei die warme Luft, die ihr zu schaffen mache, weil sie sonst immer nur draußen ist, erklärt sie sich. Eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau hat sie abgebrochen. Derzeit ist ihr Schlafplatz eine Matratze an einem U-Bahnhof im Bezirk Mitte, die sie sich mit ihrem Hund Bob Marley Junior teilt. Außerdem hat sie einen Mann, der ebenfalls dort wohnt. Mit ihnen wird sie auch das Weihnachtsfest verbringen. Die beiden und weitere Wohnungslose betitelt sie als ihre Familie. Mit ihrer leiblichen Mutter ist sie zerstritten und ihr Vater, der zu ihr und ihrer Mutter gewalttätig gewesen sei, als sie klein war, ist schon lange nicht mehr Teil ihres Lebens. Ihr Bruder habe sich vor Jahren das Leben genommen. „Schreib in die Zeitung: ,Scheiße!‘“, entfährt es ihr, als ich sie frage, was sie von Weihnachten hält. Mehrfach betont sie, welche Abneigung sie für das Fest empfindet. Weihnachtsbäume mache sie grundsätzlich kaputt, wenn sie welche sehe. Fast wirkt es, als wolle sie mich von ihrem Hass überzeugen. „Die Leute treffen sich, machen auf Familie, streiten sich und danach geht jeder wieder nach Hause.“, ist ihr Bild von Weihnachten. „Scheinheilig“, nennt sie es und Jan stimmt ihr zu.
Er ist 48, in Prenzlau geboren und wohnt nun zum dritten Mal in Berlin. Er teilt sich eine vom Staat gestellte Pension in Mahlsdorf mit sieben weiteren Bedürftigen. Freundschaften entstehen dabei nicht wirklich. Eher müsse man miteinander auskommen. „Die schönsten Weihnachtsfeste hatte ich in den acht Jahren im Kinderheim. Da haben wir immer Unsinn getrieben“, erinnert er sich und lächelt dabei. Dort hat er bis zu seiner Jugendweihe mit 14 gelebt und erste Erfahrungen mit Tieren gesammelt. Auf einer benachbarten Pferderanch sitzt er im Alter von acht Jahren nicht nur zum ersten Mal auf einem Pferd, sondern kümmert sich um den dort lebenden Hund, zu dem er ein besonderes Verhältnis pflegt. Mehrfach betont er, wie schön die Zeit dort damals für ihn war. Später hat er in verschiedenen Berufen gearbeitet und unter anderem eine Ausbildung zum Tierpfleger gemacht. Arbeiten würde er gern wieder als solcher: „So wie ich es gelernt habe oder eben auf einer Pferderanch“, verrät er. Es wird klar, wofür sein Herz schlägt. Die Möglichkeit mit Tieren zu arbeiten, wurde ihm bislang nicht mehr geboten.
Gesundheit als Weihnachtswunsch
Bei seinen Erzählungen vom Kinderheim und den Tieren kommen Jan plötzlich die Tränen. Er scheint Weihnachten mehr Bedeutung zuzuschreiben als Lulu, wirkt nachdenklich und mitgenommen beim Gedanken an das Familienfest. „Mit Glück treff‘ ich mich mit meiner Ex“, hofft er, als ich ihn frage, mit wem er das Weihnachtsfest verbringt. Zu seiner Mutter hat er kaum Kontakt. Vor kurzem drohte sie sogar mit einer Unterlassungsklage, wenn er nicht aufhöre, sie zu kontaktieren. Sie kümmere sich nur um seinen pflegebedürftigen Stiefvater und ihre Kinder seien ihr egal, behauptet er. Seine Schwester ist gerade im Gefängnis und zu seinem leiblichen Vater könne er keinen Kontakt aufnehmen, weil seine Mutter ihm trotz seiner Bemühungen jegliche Auskunft über ihn verweigere.
„Dann geh doch zur Polizei. Die können dir helfen“, unterbricht ihn Lulu. So habe sie damals ihren Onkel gefunden, als ihre Großmutter nach ihm gesucht hat. Ihre Oma ist ihr noch am nächsten, erzählt sie mir. „Ich will aber nicht, dass die mich so sieht“, ist der Grund, warum auch zu ihr kaum Kontakt besteht. Während Jan vorhat, in diesem Jahr zu Frank Zanders Weihnachtsfeier für Bedürftige zu gehen, möchte Lulu keine der Angebote zu Weihnachten nutzen. Am liebsten wäre ihr vermutlich, so wenig wie möglich von all dem mitzubekommen. Sie wird unruhig, würde das Gespräch gern beenden. Sie fühlt sich zunehmend unwohl. Es wird später, ihr Mann wartet und auch der Wodka, auf den sie vor unserem Gespräch gerade noch verzichten konnte. Mit steigender Nervosität fällt ihr Schleier der Abneigung gegenüber dem Fest ein wenig und sie wird besinnlicher. Gesundheit für sich und ihren Hund wünscht sie sich. Außerdem lässt sie mich wissen, dass auch ihrer Mutter nichts zustoßen soll. Nach all der Verbitterung, die sie zu vermitteln versuchte, scheint sie doch etwas Sehnsucht nach ihrer leiblichen Familie in sich zu tragen.
Zeit, Respekt und Kaffee
Danach beenden wir das Gespräch und ich komme ins Grübeln. Jene Zeit, die für viele als die besinnlichste, familiärste und vielleicht sogar schönste des Jahres gilt, ist für andere eine der schwersten. Wenn ein Großteil der Bevölkerung versucht, sich mit Dekorationen, Weihnachtsmärkten und weihnachtlicher Musik in die gewünschte Stimmung zu bringen, können die Gefühle bei Personen, deren Privat- und Berufsleben so zerbrochen ist, dass sie auf der Straße leben, in eine andere Richtung ausschlagen. So sehr, dass sie am liebsten darauf verzichten würden.
Danach bekomme ich noch die Chance, mich mit Herr Schellenbeck zu unterhalten. „Zu Weihnachten ist die Spendenbereitschaft natürlich besonders hoch“, erzählt er. Das ermöglicht der Bahnhofsmission, den Obdachlosen ein besonderes Weihnachtsmenü zu bieten. An Heiligabend steht unter anderem Gänsekeule auf dem Speiseplan. Diese wird nicht nur am Standort selbst ausgegeben, sondern auch in verschiedene Notunterkünfte geliefert. Außerdem werden die vielen Sachspenden unter den Bedürftigen verteilt. Am 24. Dezember findet im Hauptbahnhof zudem ein Gottesdienst statt, zu dem jeder willkommen ist. „Mit Zeit, Respekt und Kaffee”, appelliert er, als ich ihn frage, wie man als Außenstehender am besten helfen könne. Auch ich hatte das Gefühl, dass sich Jan und Lulu über ein offenes Ohr gefreut haben. Natürlich sind Sach- und Geldspenden wichtig, um die Bahnhofsmission zu unterstützen. Mit ein paar freien Minuten und ein bisschen Interesse, kann jeder aber besonders zum Fest der Liebe, dem ein oder anderen ein Lächeln ins Gesicht zaubern.
Schreibe einen Kommentar