Fassungs- und ratlos blicken wir alle in diesen Tagen auf die schrecklichen Bilder und Nachrichten, die uns aus der Ukraine erreichen. Fragen nach dem Sinn des Leides sowie Unverständnis über die Beweggründe der Machthaber sind überall präsent. Gedanken dazu von unserer Autorin Johanna.
Warum schreien die Menschen, wenn sie wütend sind?
Die Frage „Warum schreien die Menschen, wenn sie wütend sind?“ ist der Titel einer Weisheitsgeschichte von Mahatma Gandhi, in der indische Denker über eben jene Frage diskutieren. Die Antwort am Ende lautet: „Es ist so, dass sich bei einem Streit die Herzen zweier Menschen weit voneinander entfernen. Um diese Distanz zu überwinden, muss man schreien. Je wütender die Menschen sind, desto lauter müssen sie schreien, um einander zu hören“.
Als in den letzten Tagen die Nachricht über den Krieg in der Ukraine kam, ist mir eben diese Geschichte wieder in den Sinn gekommen. Sind dieser und die vielen vorangegangen Kriege also ein Ausdruck dessen, wie weit unsere Herzen mittlerweile voneinander entfernt sind? Reicht nicht einmal mehr Schreien aus, um die inneren Distanzen und Mauern zu überwinden ? Müssen wir mittlerweile wirklich (wieder) zu Waffen greifen?
Immer wieder trifft man auf das Phänomen, dass Menschen einander Schmerzen zufügen, um überhaupt in Kontakt zu kommen. Das Bedürfnis wahrgenommen zu werden, wird immer wieder übergangen. Am Ende scheint der einzige Ausweg die gewünschte Aufmerksamkeit wenigstens dadurch zu erlangen, dass man andere angreift. Schon bei Kindern kann man dieses Verhalten beobachten. Bekommen sie nicht die gewünschte Aufmerksamkeit, äußert sich das auch häufig in aggressiven und impulsiven Verhaltensweisen.
Dieses Bedürfnis nach Aufmerksamkeit verbirgt sich vielleicht auch hinter dem Begriff „Sehnsucht“, wie folgendes Gedicht verdeutlichen soll:
Seh(e)nsucht
Dieses Gefühl,
wenn man sucht.
Und – manchmal – nicht weiß,
was oder wen eigentlich.
Oder
sucht man nicht mehr einfach nur,
sondern ist schon süchtig?
Nur nach was?
Süchtig danach, gesehen zu werden.
Nur von wem?
Von sich selbst
oder von allen anderen?
Zu sehen, wer – oder was –
man selbst ist,
und als das gesehen
und (an)erkannt zu werden.
Und vielleicht
spiegelt sich diese „Gesehenwerden“ – Sucht
oder Suche
auch in den alltäglichen Süchten wieder.
In der Drogen- oder Spielsucht
In Mager- oder Esssucht
In Arbeits- oder Kaufsucht
Und ganz aktuell
in der Sucht nach Kontrolle und Macht.
Vielleicht such(t)en wir
einfach alle
danach, gesehen zu werden –
Seh(e)nsucht eben!
[Leija]
Innere Distanzen im Kleinen überwinden
Vielleicht können wir diesen Krieg und all die Opfer, die er fordert, als einen Aufruf sehen, innere Distanzen wenigstens im Kleinen zu überwinden. Dafür sind, meiner Meinung nach, die folgenden zwei Schritte nötig: Zunächst einmal ist es wichtig, dass du in Ruhe überlegst, was dich ausmacht und welche Wünsche in dir präsent sind. Lerne, dich wieder selbst wahrzunehmen, anzuerkennen und zu zeigen mit deinen Gefühlen, Bedürfnissen und einzigartigen Fähigkeiten. Das braucht Zeit und klingt vielleicht erst einmal egozentrisch. Aber es ist wichtig, um den zweiten Schritt gehen zu können.
Als nächstes galt es dann nämlich, zu lernen, genauso mit anderen umzugehen. In Gesprächen und Begegnungen wirkliches Interesse für den Anderen, seine Gefühle, Gedanken, Bedürfnisse, Erfahrungen und Perspektiven zu zeigen. Respektvoll und wertfrei dem Anderen zu begegnen und voller Neugierde die Einzigartigkeit und Vielfältigkeit eines Jeden kennenzulernen. So schaffen wir es, unser Gegenüber als das zu sehen, was er ist – und nicht, wie wir ihn uns vorstellen oder wie wir ihn gerne hätten. So können der Wunsch und das Bedürfnis danach, gesehen zu werden, vielleicht Stück für Stück erfüllt werden.
Frieden in der Welt kann am Ende nur entstehen, wenn wir damit bei uns selbst und im Kleinen anfangen!
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