Solidarität: Ein starkes und zugleich unscharfes Wort, das in Corona-Zeiten wieder Hochkonjunktur hat. Was aber bedeutet eigentlich Solidarität? Woher kommt der Begriff, wer oder was prägte ihn und wie manifestiert sich Solidarität nicht nur im Leben des Einzelnen, sondern auch in Staat und Gesellschaft? Ein Essay.

Solidarität in Zeiten der Coronakrise heißt Zuhause bleiben und Abstand halten; ist Einkaufshilfe und dankbarer Applaus für die Systemrelevanten in Kliniken, Handel, Verwaltung und weiteren Bereichen, die im Sinne des Gemeinwohls und der Krisenbewältigung reibungslos funktionieren müssen. Mit Anstand Abstand halten bedeutet Solidarität heute ganz praktisch; sie ist in diesem Sinne jetzt das beste Antivirenprogramm für das gesellschaftliche Betriebssystem, das heruntergefahren wurde und aktuell im Standby-Modus verharrt. Installiert wurde zuvor die solidarische Firewall, die jeder Einzelne anwenden kann. Den Ruf nach mehr Solidarität nur an den Einzelnen zu richten, wäre jedoch falsch. Bloßes Appellieren und Mahnen hilft grundsätzlich nicht viel, auch nicht in Zeiten der grassierenden Coronapandemie.
Vom Rechtsterminus zur Kampfparole zum sozialen Zentralbegriff
Schaut man einmal begriffsgeschichtlich zurück, taucht der neulateinische Terminus „solidaritas“ erstmals in der französischen Rechtssprache auf, die ihn wiederum dem Prinzip der „obligatio in solidum“, der Solidarhaft der antiken Römer entnommen hatte. Dieses juristische Solidaritätsverständnis wandelte sich zu einem zutiefst politischen im Zuge der Französischen Revolution von 1789 und dem Aufkommen der Arbeiterbewegung im industrialisierten 19. Jahrhundert. Solidarität wurde für die Arbeiterklasse zur durchschlagenden politischen Parole. Aus dem spröden Juristenwort der Solidarhaft wurde in dieser Zeit eine Interessen- und Kampfsolidarität im Einsatz für bessere Arbeitsbedingungen in den Fabriken und Werkshallen Europas und von dort aus schnell auch weltweit ein sozialistischer Programmbegriff des Proletariats.
Nicht nur die Malocher, auch die Denker begeisterten sich während dieser Zeit für Solidarität. Der Soziologe Emile Durkheim kürte Solidarität zum Zentralbegriff seines Nachdenkens über die Gesellschaft und die soziale Arbeitsteilung. Losgelöst vom Klassenkampfbegriff geht es bei einer sozial verallgemeinerten Solidarität im Kern um ein Aufeinander-angewiesen-Sein von Individuum und Gemeinschaft. Das aber macht Solidarität seither jedoch auch zu einem Containerbegriff, in den jeder sein eigenes beliebiges Verständnis hineinwirft. Ist ein Hantieren mit dem Terminus der Solidarität also nur ein „Pfeifen im dunklen Wald“, wie es insbesondere Wirtschaftsliberale meinen?
Die spezifisch christliche Solidaritätsidee
Wesentlich gespeist wurde diese Begriffsarbeit nicht zuletzt aus dem christlichen Verständnis von Brüderlichkeit und Nächstenliebe. Die katholische Kirche sah deshalb nicht allzu lange bei der Vereinnahmung des Begriffs durch die atheistischen Sozialisten zu. Im 19. Jahrhundert entwickelte sie die katholische Soziallehre als christliche Antwort auf die große Soziale Frage. Und dabei ist es insbesondere dem Jesuiten Heinrich Pesch als Begründer des christlichen „Solidarismus“ zu verdanken, dass Solidarität zu einem zentralen Prinzip der kirchlichen Soziallehre avancierte.
Solidarität, gemäß christlicher Sozialethik eines der Baugesetze der Gesellschaft (Oswald von Nell-Breuning), ist zunächst einmal nicht von emotionaler Verbundenheit abhängig. Solidarität ist als die in Rechtsnormen gegossene Pflicht zu verstehen, dass sich nicht der Einzelne allein, sondern die ganze Gesellschaft und ihre Institutionen für das Wohl aller einsetzen. Solidarität begründet nach diesem Verständnis den Anspruch jedes Menschen, bei Bedürftigkeit von der Gemeinschaft bzw. vom Staat die Hilfe zu erhalten, die es ihm ermöglicht, sich wieder selbst helfen zu können. Von dieser Hilfe darf niemand ausgeschlossen werden. Das gilt besonders für diejenigen, die auf Solidarität existenziell angewiesen sind. Solidarität als Sozialprinzip nimmt damit in Strukturen und Institutionen Form an.
Der Sozialstaat als geronnene Solidarität
Im Sozialstaat sichert das Solidaritätsprinzip den wechselseitigen Beistand aller institutionell ab. Solidarität manifestiert sich nach christlich-sozialethischer Deutung ganz grundsätzlich und trotz aller bleibenden Defizite im Sozialstaat zu einer Institutionalisierung des barmherzigen Samariters aus der Bibel. Während dieses Gleichnis Jesu vor allem an den Einzelnen appelliert, den unter die Räuber gefallenen Nächsten nicht am Wegesrand liegen zu lassen, sondern ihm zu helfen, blickt christliche Sozialethik über das Einzelschicksal hinaus. Um im Bild zu bleiben, fragt sie vielmehr danach, wie die Straßen zwischen Jericho und Jerusalem sicherer gemacht und auf diese Weise Überfälle fortan verhindert werden können.
Solidarischer Staat – Solidarität mit Politikern
Nun aber wieder runter von der theoretisch-ethischen Hochebene in die Tiefen des politischen Maschinenraums unserer Gesellschaft. Was heißt Solidarität in Corona-Zeiten ganz konkret? „Wir sitzen alle in einem Boot“, so hat schon der 1991 verstorbene Sozialethiker Oswald von Nell-Breuning Solidarität konzis auf den Punkt gebracht. Das meint, dass die Gesellschaft als Ganze und wir als ihre Glieder aufs Engste schicksalshaft miteinander verbunden sind. Uns eint heute der Kampf gegen einen gemeinsamen unsichtbaren Gegner: das gefährliche Coronavirus. Vater Staat zeigt in diesen Kampftagen seine fürsorgende Solidarität mit den Unternehmen und Arbeitnehmern in Gestalt milliardenschwerer Hilfspakete von historischer Größenordnung.
Von daher sollten in die Applaus- und Dankbekundungen gegenüber den systemrelevanten Menschen als den Helden unserer Krisenzeit auch die sonst so vielgescholtenen Politiker aller staatlichen Ebenen miteinbezogen werden. Auch unsere Kommunalparlamentarier, Abgeordnete und Regierungsmitglieder aller politischen Ebenen leisten derzeit unter hohem Stress und Verantwortungsdruck angesichts der Neuartigkeit und Gefährlichkeit dieser Krise einen unverzichtbaren Beitrag zur Systemstabilisierung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Wie heftig bis unerträglich dieser aktuelle Druck für Politiker sein kann, wurde jüngst durch den Suizid des hessischen Finanzministers in tragischer Weise deutlich.
Der Mensch ist staatsbedürftig
Wieder zurück auf der grundsätzlichen Ebene zeigt sich daran: Solidarität als wechselseitige Abhängigkeit von Bürgern einer Massendemokratie impliziert auch eine gewisse Abhängigkeit vom Staat. Aber Gott sei Dank von einem demokratisch regierten Rechts- und Sozialstaat. Nicht zu Unrecht hat der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt einmal im Fernsehen gesagt: „Ich denke seit Jahrzehnten, dass der Sozialstaat die größte kulturelle Leistung ist, die die Europäer – fast alle europäischen Staaten – im Laufe des 20. Jahrhunderts zustande gebracht haben.“ Um unseren institutionalisierten barmherzigen Samariter in Coronazeiten so richtig schätzen zu lernen, braucht man aktuell nur nach Amerika zu schauen: Wegen der nur rudimentären Sozialstaatlichkeit verlieren in den USA gerade Millionen ihren Job, da sie kein Kurzarbeitergeld aus einer soliden Arbeitslosenversicherung wie in Deutschland schützt. Außerdem genießen ebenfalls Millionen von US-Bürger nicht einmal einen Krankenversicherungsschutz im Falle einer Virusinfektion.
Solidarität braucht Herz und Verstand
Die Herzen und Köpfe der Menschen wollen und müssen letztlich beteiligt sein, wenn Solidarität auch als sozialethisches Prinzip sozialstaatlich ausbuchstabiert werden soll. Solidarität als hochherzige Haltung und Tugend von Bürgern speist letztlich auch die Solidarität in Form von gesellschaftlichen Beistandsstrukturen. Auch in dieser größten Herausforderung Deutschlands seit dem Zweiten Weltkrieg (Angela Merkel) erweist sich Solidarität als unverzichtbar, und zwar sowohl als gesellschaftlich-sozialethisches Baugesetz wie auch als zwischenmenschlich-gefühlsbasierte Haltung und Tugend des Einzelnen. Die Corona-Krise bezeugt nämlich in neuer Unabwendbarkeit und Schicksalshaftigkeit das Solidaritätsverständnis von Papst Johannes Paul II.: Wir sind alle für alle verantwortlich.
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