Die Ergebnisse der Bundestagswahl 2017 liefern bis heute viel Gesprächsbedarf. In den Koalitionsgesprächen wird um den richtigen Kurs gerungen. Dabei muss sich vor allem eines bessern: Das Wahlsystem! Denn 111 zusätzliche Bundestagsabgeordnete mit geschätzten Mehrkosten von 300 Mio. Euro sind einfach zu viel.
Eigentlich, so könnte man meinen, ist das Wahlsystem für den Deutschen Bundestag ganz einfach: Jeder Wähler hat zwei Stimmen; die Erststimme für den Direktkandidaten des Wahlkreises und die Zweitstimme für die Liste einer Partei. Damit versucht das deutsche Wahlsystem die Vorteile der Mehrheitswahl (z.B. Kandidat vertritt Interessen eines Wahlkreises) und der Verhältniswahl (z.B. keine verfallene Stimmen) zu vereinen.
Komplizierte Berechnung
Allerdings hat die Vereinigung der beiden Systeme ihren Preis: Wenn es nämlich an die Verteilung der Sitze geht, wird die Sache kompliziert. Zwar ist der Grundgedanke relativ einfach – 299 Sitze gehen an die Direktkandidaten der einzelnen Wahlkreise und 299 Sitze werden nach dem dem Verhältnis der Zweitstimmen aufgeteilt – doch durch die Vorgabe, dass das Verhältnis der Zweitstimmen auch die Sitzverteilung im Bundestag wiedergeben muss, wird das ganze zu einem Rechenspiel für Mathematiker.
Überhangmandate
Hier kommen die Überhang- bzw. Ausgleichsmandate ins Spiel: Erbeutet eine Partei mehr Direktmandate, als es dem Verhältnis der Zweitstimmen entspricht, spricht man von Überhangmandaten. Damit dieses Verhältnis bei der Sitzverteilung wiederhergestellt wird, bekommen die anderen Parteien Ausgleichsmandate.
Das zweitgrößte Parlament weltweit mit erheblichen Mehrkosten
Die Union errang bei der diesjährigen Wahl ca. drei Viertel aller Direktmandate. Nach den Zweitstimmen stehen CDU/CSU aber nur ca. 33 Prozent der Sitze im deutschen Bundestag zu. So ergaben sich für die restlichen Parteien Ausgleichsmandate in Höhe von 62 Sitzen. Rechnet man die 49 Überhangmandate hinzu kommt man auf die Rekordzahl von 111 zusätzlichen Sitzen. Insgesamt also 709 Abgeordnete und damit weltweit das zweitgrößte Parlament. Nur China hat mehr. Laut dem Bund der Steuerzahler ergeben sich dadurch für die kommende Legislaturperiode Mehrkosten von ca. 300 Millionen Euro.
Absurde Konstellationen
Dieses Ausgleichen führt mitunter zu absurden Konstellationen: In Bayern etwa gewann die CSU alle 46 Wahlkreise. Da sie aber nur knapp 39 Prozent der Zweitstimmen erlangen konnte, stand ihr kein einziges Mandat der Liste nach zu. Kurz gesagt: Die Landesliste der CSU war für die Katz.
Auf der anderen Seite profitieren Politiker von Parteien mit vielen Ausgleichsmandaten. Knapp 15 Prozent der Grünen-Abgeordneten etwa sind im kommenden Bundestag Nachrücker, die im eigentlich vorgesehenen Bundestag mit knapp 600 Sitzen leer ausgegangen wären.
Noch krasser dürfte die Burleske sein, die sich bei der Bundestagswahl 2005 abgespielt hatte. Im Wahlkreis Dresden I mussten wegen des Todes einer Kandidatin Nachwahlen durchgeführt werden. Aufgrund des damalig verwendeten mathematischen Verfahrens hätte die Union einen Sitz verloren, wenn sie mehr als 42.000 Zweitstimmen errungen hätte. Daher gingen viele Unionswähler mit ihrer Zweitstimme zur FDP. Diese fuhr somit rekordverdächtige 17 Prozent ein.
Reform der Reform nötig
Immer wieder führt das komplizierte deutsche Wahlsystem zu Diskussionen. Die bisher kleinen Reformen helfen meist wenig, um das Problem grundlegend zu lösen. Der letzten Reform von 2013 ist es etwa zu verdanken, dass der Bundestag einerseits so aufgebläht ist, aber andererseits durch Überhangmandate keine Verzerrung des Mehrheitsverhältnis entstehen kann.
Dabei spricht es doch für eine gesunde Demokratie, wenn das Wahlergebnis für jeden nachvollziehbar bleibt. Eine starke Vereinfachung wäre beispielsweise, wenn die Erst- und Zweitstimmen vollkommen getrennt voneinander und ohne Überhang- bzw. Ausgleichsmandate vergeben werden. Hier würden vor allem die großen Parteien Union und SPD profitieren, da sie viele Wahlkreise über die Erststimmen gewinnen.
Man könnte sich aber auch Gedanken machen, ob man das Zweistimmensystem als Ganzes auf Grund seiner Komplexität überhaupt noch mittragen kann oder ob es nicht sinnvoller wäre auf ein Einstimmensystem nach Mehrheits- oder Verhältniswahl zu wechseln. Unabhängig wie man sich letztlich entscheidet, man sollte eines nicht machen: das Wahlsystem verkomplizieren.
Michael
Die machen es komplett falsch. Mann sollde nur Parteien wählen dürfen. Die wiederum wählen die Leute, wo sie im Bundestag vertreten.
z.B. 1. Parrtei bekommt 200 Sitze, 2 Partei 150Sitze….da kann es keinenzu grossen Bundetag geben.
Raimund
NEIN, genau umgekehrt, nur Direktkandidaten sollten in den Bundestag und die Landtage!
Siehe Schweiz, das einzige direktdemokratische Land der Welt.
Folker
Unter der Annahme dass der BT aus 709 MdBs bei gleichzeitiger 5%-Hürde entspricht dieser Bundestag exakt dem Volkswillen: Der CDU stehen bei ihren 26,76% 199,72 Mandate zu, erhalten hat sie 200; der SPD bei 20,51% 153,06 Mandate, sie hat 153 erhalten, den Grünen bei 8,94% 66,72 Mandate, erhalten haben sie 67, usw. Demokratischer, einfacher und nachvollziehbarer geht es nicht.
Bleibt also einzig die Zahl von 709 MdBs. 300 Mio € Mehrkosten seien einfach zuviel. Warum? Weil der Bund der Steuerzahler das sagt? Weil Demokratie nur wenig kosten darf?
Der Volkswille taucht in Matthaeis Argumentation überhaupt nicht auf. Für eine gesunde Demokratie spreche ein einfach nachvollziehbares Wahlergebnis. Das bezieht er einzig auf die Zahl von 709 MdBs. Die Widerspiegelung des Volkswillens im BT, die durch die unterschiedliche Zustimmung zu den einzelnen Parteien zum Ausdruck kommt, sind ihm unwichtig.
Das sieht man dann auch an seinen “Verbesserungsvorschlägen”:
– Keine Ausgleichsmadate mehr -> starker Überhang von Union und SPD. Entpricht zwar nicht dem Wählerwillen, aber egal.
– reines Verhältnis- oder Mehrheitswahlrecht, Hauptsache einfach. Dass ein reines Verhältniswahlrecht den Wählerwillen exakt widerspiegeln, ein reines Mehrheitwahlrecht (nach US- oder GB-Muster) den Wählerwillen mächtig verfälschen würde, spielt für ihn keine Rolle.
Unter den gegebenen Umständen ist das jetzige Wahlsystem das bestmögliche. Dabei kann eine Verkleinerung des BTs leicht durch Verringerung der Zahl der Direktmandate erreicht werden, entweder durch Reduzierung der gesetzlichen Anzahl der MdBs auf z.B. 500 (statt 598) oder durch Veränderung des gesetzlichen Verhältnisses Direkt-/Listenmandate von 1:1 auf z.B 1:2.
Stefan Matthaei
@Folker
Vielen Dank für ihren ausführlichen Beitrag, der zum Diskutieren einlädt.
Sie haben Recht, dass ich in erster Linie für ein einfacheres Wahlsystem plädiere. Sie haben auch Recht, dass die Sitzverteilung im Bundestag ziemlich exakt dem Zweitstimmenverhältnis entspricht.
Allerdings meine ich mit Nachvollziehbarkeit nicht nur das reine Endergebnis, sondern auch wie der Bundestag als solches zu Stande kommt. Etwa wie groß ist er im Ganzen (im Moment nur schwierig nachvollziehbar, zumindest, wenn man alle Regeln, Klauseln und angewendete mathematischen Verfahren berücksichtigt). Aber auch, wie ist die Verteilung in den Ländern (z.B. ist es ein Unding wenn die Anzahl der Mandate für ein Bundesland über die Zweitstimmen de facto erst nach der Wahl ermittelt wird, da die Bekanntgabe der Verteilung der Bevölkerung durch den Bundeswahlleiter vor der Wahl nur eine Empfehlung ist, das finale Ergebnis steht also erst drei Wochen nach der Wahl fest). Oder wie entstehen die Wahlkreise selbst und ab wann muss ein neuer Wahlkreis gebildet werden.
Darüber hinaus laufen die Landeslisten Gefahr zu einer Posse zu werden, wenn etwa eine Partei in einem Bundesland alle Direktmandate gewinnt und daher bei einem Zweitstimmenanteil < 50 % keinen Mandaten über die Zweitstimme entsenden darf. In Bayern gingen alle Direktmandate an die CSU, in Baden-Würrtemberg alle an die CDU. Joachim Herrman, der unter anderem als Minister gehandelt wird, ist trotz Listenplatz eins bei der CSU nicht in den Bundestag gekommen. Als Minister muss er nicht im Bundestag sitzen, aber das ist alles andere als optimal. Man kann einem Wähler nur schwierig erklären, dass die Zweitstimme eigentlich die wichtigere ist, aber über die Zweitstimme in diesem Fall von der CSU über die Liste keiner reinkommt. Darüber hinaus werden die CSU in Bayern und die CDU in BaWü wohl dazu übergehen, die Kandidaten über die Erststimme "abzusichern" (und nicht wie bisher andersherum). Damit kann es passieren, dass Politiker für einen Wahlkreis antreten, mit dem sie nicht viel zu tun haben.
Das Hautproblem am jetzigen System ist, dass, bei der derzeitigen Stimmenverteilung (also Union gewinnt sehr viele Direktmandate, bei gleichzeitig niedrigem Zweitstimmenanteil) ziemlich viele Ausgleichsmandate entstehen, die eben Geld kosten. Tatsächlich bin ich der Meinung, dass Demokratie auch Geld kosten darf bzw. muss, aber mit Geld ein Wahlsystem zu verteidigen, dass suggeriert die Vorteile von Erst- und Zweitstimme zu vereinigen, es aber in der Realität z.T. unterlaufen wird, finde ich falsch.
Wenn man die Verhältniswahl als demokratischer ansieht, weil hier der Wählerwille eins zu eins abgebildet sei (auch hier gibt es unterschiedliche Meinungen – siehe Kommentare oben), müsste man für die Abschaffung der Erststimme sein. Eine gewisse Regionalisierung der Mandatsträger und damit direkte Ansprechpartner für lokale Angelegenheiten kann dann durch Landeslisten (oder noch kleinere Gebiete) erfolgen.
Es kommt aber noch hinzu, dass bei über 100 Nachrückern, die Frage erlaubt ist, ob alle Nachrücker auch die gleiche politische Qualität haben. Außerdem scheint es mir ebenfalls ein Nachteil zu sein, wenn das Verhältnis von Direktmandaten und Zweitstimmenmandaten stark ins Ungleichgewicht gerät. Der Einfluss der Direktmandatsträger würde sinken.
Einig sind wir uns beide, dass es sich lohnt für ein bestmögliches Wahlsystem und natürlich für das Wahlrecht selbst einzutreten. Oder um den Philosophen Jose Ortega y Gasset zu zitieren:
»Das Heil der Demokratien, von welchem Typus und Rang sie immer seien, hängt von einer geringfügigen technischen Einzelheit ab: vom Wahlrecht. Alles andere ist sekundär.«
(gefunden auf wahlrecht.de)
Übrigens BaWü reformiert gerade das Wahlrecht für den Landtag (http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.wahlrecht-in-baden-wuerttemberg-startschuss-fuer-die-reform-des-landtagswahlrechts.5565b38c-fa4f-45df-9d42-e4317dbf264a.html)