Wer in den vergangenen Monaten regelmäßig Nachrichten geschaut hat, dem wird aufgefallen sein, dass ein Thema unentwegt zu dominieren scheint: die Flüchtlingskrise. Man hört so viel darüber, weiß aber doch so wenig. Dabei ist das Thema gerade in juristischer Hinsicht gleichermaßen komplex wie spannend: Wer ist für die Bearbeitung von Anträgen zuständig? Sind Obergrenzen verfassungsgemäß? Und wie sieht es eigentlich in der Praxis aus? Chiara Granacher und Charlotte Greipl im Interview mit Rechtsanwalt Manuel Kabis.
Eine Gelegenheit, mehr darüber zu erfahren, bot das diesjährige JuraForum. Zum Thema: „Willkommen in Deutschland?! Die Situation von Asylbewerbern in Deutschland und Europa“, berichteten Referenten von ihren beruflichen Erfahrungen in diesem Bereich. Im Anschluss an den Vortrag sprachen wir mit Manuel Kabis, Rechtsanwalt für Asyl- und Ausländerrecht, über die aktuelle Rechtslage.
Herr Kabis, können Sie die rechtliche Lage der Flüchtlinge in Deutschland kurz skizzieren?
Wenn jemand als Flüchtling nach Deutschland kommt, ist zunächst darüber zu entscheiden, ob sein Asylverfahren hier durchgeführt wird oder ob ein anderes EU-Land zuständig ist. Es findet also hinsichtlich des Reiseweges eine Prüfung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) statt. Wenn die Bundesrepublik zuständig ist, erfolgt eine zweite Anhörung zur Sache, also zum Inhalt des Asylbegehrens. Dabei wird entschieden, ob jemand als Flüchtling hier bleiben kann, sonstigen Schutz bekommt oder ausreisen muss. Wenn feststeht, dass ein anderes EU-Land zuständig ist, dann wird der Antrag als unzulässig abgelehnt und es wird eine Abschiebung in den anderen EU-Staat angeordnet. Allerdings gibt es dafür Fristen, wenn die abgelaufen sind, wird Deutschland nachträglich zuständig. Auf diese Weise können viele, die zum Beispiel eigentlich nach Ungarn zurück sollten, in Deutschland bleiben.
Was läuft Ihrer Meinung nach gut und was läuft schlecht in der Asylpolitik?
Was gut läuft ist zum Beispiel, dass sich das EU-Recht im Bereich des Flüchtlingsschutzes in den vergangenen Jahren erheblich verbessert hat: Es gab eine deutliche Steigerung bei der Definition der Asylgründe und der Schutzansprüche. Toll ist natürlich auch das private Engagement von sehr vielen Mitbürgerinnen und Mitbürgern.
Was schlecht läuft ist zur Zeit vor allem die Politik, die für ein Durcheinander sorgt. Man weiß nicht: Soll die Dublin-Verordnung für Syrer angewendet werden? Welchen Schutz will man zuerkennen? Und wer hat überhaupt was zu sagen – auch das ist zum Teil unklar. Insofern geht momentan vieles drunter und drüber. Verbessert werden muss auch die Situation beim BAMF, welches trotz der hohen Aktenrückstände weitere Aufgaben zugeteilt bekommen hat.
Wie könnten die EU-Mitgliedstaaten besser eingebunden und auch verpflichtet werden, damit eine gerechte Verteilung erreicht werden kann?
Verpflichtet in dem Sinne gar nicht – man muss sehen: die Dublin-Verordnung funktioniert nicht mehr. Man muss neue Regelungen finden, das geht aber nur im politischen Konsens. Letztendlich müssen dafür entweder der Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV) geändert oder die diversen EU-Richtlinien und -Verordnungen neu gefasst werden. Das funktioniert nur über den Rat der EU, das EU-Parlament und die EU-Kommission.
Was halten Sie von einer Obergrenze?
Politisch kann man natürlich viel darüber diskutieren, ob irgendwann die Möglichkeiten ausgeschöpft sind oder nicht. Rechtlich ist eine Obergrenze aus meiner Sicht nicht möglich. Man könnte das Asylgrundrecht in Deutschland abschaffen. Das würde jedoch nichts nützen, denn wir sind europarechtlich gebunden und es gibt nach EU-Recht keine Obergrenzen. Jeder, der auf dem Territorium der EU einen Asylantrag stellt, hat das Recht, seine Asylgründe innerhalb Europas prüfen zu lassen.
Wie kann es zu Fehlern von Seiten des BAMF bei der Entscheidung von Asylanträgen kommen?
Ursache kann vieles sein, beispielsweise eine schlecht laufende Anhörung. Der Asylbewerber ist gehalten, seine Gründe in schlüssiger, widerspruchsfreier Form mündlich darzulegen. Darauf folgt eine Glaubwürdigkeitsbewertung und dabei kann natürlich Vieles passieren: Die Fragestellungen können so unkonkret sein, dass der Flüchtling nicht weiß, worauf er antworten soll. Das Bildungsniveau der Flüchtlinge ist vollkommen unterschiedlich. Wenn man einem Analphabeten sagt, er solle seine Lebensgeschichte erzählen, wird er es einfach nicht können, weil er nicht gelernt hat, sich zu artikulieren.
Vereinzelt kommt es auch vor, dass ein gewisses Grundvertrauen fehlt und ein Entscheider jemandem gleich vorhält, dass er ihn nicht für glaubwürdig hält. Problematisch ist, dass alles gedolmetscht werden muss. Gerade das Übersetzen von politischen Zusammenhängen und Begriffen aus anderen Kulturen ist anfällig für Missverständnisse, die sich dann in der Entscheidung auswirken.
Ein anderes Kernproblem ist, dass viele Flüchtlinge psychische Probleme haben, die oftmals in den ersten Monaten des Aufenthalts nicht auffallen. Es ist gerade typisch etwa für eine posttraumatische Belastungsstörung, dass die Kommunikationsfähigkeit gestört ist. Das würde bei einer Anhörung beim BAMF überhaupt nicht zur Geltung kommen oder nur in rudimentären Andeutungen, die nicht weiterverfolgt werden. Oft kommt erst nachdem die Leute Zugang zu einem Facharzt hatten oder stationär im Krankenhaus behandelt wurden heraus, dass eine psychische Erkrankung vorliegt, die auf Fluchtursachen beruhen kann. Das ist ein Kernproblem der Verfahren: Zu erkennen, dass eine psychische Erkrankung vorliegt und dem dann im Rahmen des Asylverfahrens gerecht zu werden.
Wie prognostizieren Sie die Weiterentwicklung des Asylrechts in den kommenden zehn Jahren?
Ich kann Ihnen sagen, dass ich in elf Jahren in Rente gehen werde (lacht). Was bis dahin passiert? Die EU muss zunächst einmal neue Regelungen finden, nachdem Dublin offensichtlich gescheitert ist. Die Dublin-Verordnung hat zunächst die EU-Außenstaaten benachteiligt, die sich jetzt für diese Situation rächen und selbst gegen das Gesetz verstoßen, indem sie Leute nicht mehr registrieren und nach Deutschland schicken. Das muss politisch gelöst werden. Ansonsten sind wir eigentlich gut aufgestellt, was den Inhalt des Asylverfahrens angeht. Wir haben eine erhebliche Erweiterung der Fluchtgründe und der Verfolgungssubjekte. Wir sind also schon auf einem guten Weg, das Problem ist das Verfahren.
Ist Ihnen ein Fall besonders im Gedächtnis geblieben?
Da könnte ich natürlich Vieles erzählen. Ich hatte beim Verwaltungsgericht Chemnitz den Fall einer traumatisierten Frau aus der Türkei, die geltend machte, in Polizeigewahrsam vergewaltigt worden zu sein. Wir haben ein psychiatrisches Sachverständigengutachten eingeholt und die Gutachterin auch in der mündlichen Verhandlung angehört. Der Richter hielt die Gutachterin nicht für überzeugend, weil er meinte, es fehle an der emotionalen Beteiligung der Klägerin. Nachdem deutlich wurde, dass er trotz des Gutachtens die Klage abweisen wollte, brach die Klägerin zusammen. Sie fing an zu zittern, man musste einen Notarzt rufen. Auf meinen Hinweis hin, ob jetzt genug Emotionalität im Spiel sei, änderte der Richter seine Auffassung. Jetzt war er überzeugt, dass die Klägerin tatsächlich krank war. Ein ganz krasser Fall, weil eine psychiatrische Gutachterin im Saal war und das Gericht sich über deren Kompetenz hinwegsetzen wollte.
Wie schaffen Sie es, sich von den oftmals schweren Schicksalen, mit denen Sie zu tun haben, emotional zu distanzieren und sich professionell mit dem Sachverhalt zu befassen?
Man muss das im Laufe der Jahre lernen. Es hat viel mit Selbstdisziplin zu tun und ich kann auch nur jedem raten, eine gewisse berufliche Distanz zu seinen Mandanten aufzubauen. Das heißt nicht, dass man sich nicht für die Leute interessiert, sondern dass man Abwehrmechanismen entwickelt. Dann kann man nach Feierabend wirklich die Bürotür zu machen und sich inhaltlich anderen Dingen widmen. Wenn ich immer alles mit nach Hause nehmen würde, wäre ich wahrscheinlich längst aus dem Job raus.
Wie sind Sie dazu gekommen, sich beruflich mit dem Asylrecht zu befassen?
Ich hatte als Heranwachsender 1980 nach dem Militärputsch in der Türkei viel mit Flüchtlingen von dort zu tun. Im Rahmen meines Studiums habe ich mich weiter mit der Thematik beschäftigt und mich rechtlich eingearbeitet. Ich habe auch in den Arbeitsgemeinschaften im Referendariat Vorträge zum Ausländerrecht gehalten. Das hat mich dann ein Leben lang begleitet. Irgendwann weiß man nicht mehr, warum man angefangen hat, man weiß nur, dass man vor der Rente nicht damit aufhören wird (lacht). Was nicht schlimm ist, ich mache das sehr gerne!
Würden Sie diese Arbeit weiterempfehlen?
Ja natürlich, Verwaltungsrecht ist nicht trocken. Es gibt im Bereich des Asylrechts ein sehr breites Spektrum. Sie müssen Verwaltungsverfahrensrecht und Verwaltungsprozessrecht können und brauchen Verfassungsrecht, Europarecht und spezielles Asylrecht. Das kann man mit Leidenschaft machen, wenn man tatsächlich Menschen vor sich hat, denen man aktiv helfen kann. Das ist aus meiner Sicht für einen Anwalt ein sehr interessantes Berufsbild.
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