Der NDR verkündete: Xavier Naidoo repräsentiert Deutschland beim Eurovision Song Contest 2016 in Stockholm. Wenig später nahm der NDR seine Entscheidung zurück. Grund dafür waren zahlreiche kritische Nachrichten, die die Verantwortlichen “unterschätzt” hatten. Wie sich die Situation zuspitzte und wie es nun weitergehen soll. Ein Bericht von Andrea Schöne.

ESC-Kandidat ohne Publikum?
Ein Blick ins Internet. Wieder eine Schlagzeile. Xavier Naidoo vertritt 2016 Deutschland im Eurovision Song Contest und das Publikum dürfe ein Lied für ihn aussuchen. Aber halt. Fehlt da nicht etwas? – Genau. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich selbst den vielen jungen Leuten beim Casting für „Unser Star für Oslo“ im Fernsehen zugeschaut habe. Am Ende hatte sich Lena Meyer-Landrut mit „Satellite“ nicht nur ins Herz der Deutschen gesungen. Letztes Jahr ging das Konzept „unseren Star für Wien“ zu wählen völlig unerwartet schief. Der Favorit und Gewinner Andreas Kümmert wollte nicht nach Wien fahren, daher wurde Ann-Sophie, die Zweitplatzierte, völlig unverhofft zur Kandidatin für Wien. Ihr Lied „Black Smoke“ holte nicht einen einzigen Punkt. Womöglich wollte der NDR dieses Dilemma nicht wiederholen und wählte einfach selbst einen Kandidaten aus. Sehr zum Unmut der Medien und dem Publikum. Mit dem Hashtag #XavierNaidoo begann noch am gleichen Tag ein nicht endender Shitstorm.
Der ESC steht für Völkerverständigung
Über Musikgeschmack lässt sich bekanntlich streiten. Nicht jedem gefällt alles. Auch nicht alle Liedtexte gefallen. Naidoo ist bekannt für seine Pop-Soul-Songs, in denen er, laut eigenen Aussagen, seinen tiefchristlichen Glauben und sein Anliegen für Nächstenliebe weitergeben will. Im Jahr 2012 (Leila Weltersbach berichtete) wurden er und sein Kollege Kool Savas für den Hidden Track in dem Lied „Wo sind sie jetzt“ auf dem Album „Aura“ angezeigt. Die Staatsanwaltschaft leitete, begründet mit der Meinungsfreiheit, kein Ermittlungsverfahren ein. Wie weit Meinungsfreiheit jedoch gehen darf, darüber kann man streiten. Der NDR kürt einen deutschen Musiker als Vertreter Deutschlands, dessen politische Meinung kontrovers diskutiert wird. Schon im Jahr 2011 bei einem Interview im Morgenmagazin der ARD zum Lied „Freiheit“ der Band „Söhne Mannheims“, bei der Xavier Naidoo Bandmitglied ist. Hierbei sagte er:
„Aber nein, wir sind nicht frei, wir sind immer noch ein besetztes Land! Deutschland hat noch keinen Friedensvertrag und ist dementsprechend auch kein echtes Land und nicht frei.“
Nach einem kleinlauten Einwurf der Moderatoren, dass der „Zwei-Plus-Vier-Vertrag“ sehr wohl ein Friedensvertrag ist, sprachen sie schnell über die Musik weiter. Genau diese Denkweise, dass Deutschland immer noch besetzt ist, vertreten die sogenannten „Reichsbürger“. Ein kleiner Einblick in deren Gedankenwelt: Die Bundesrepublik Deutschland stellt für sie keinen echten Staat, sondern eine Firma mit staatsähnlichen Strukturen, eine „BRD-GmbH“, dar. Sie bestreiten auch die völkerrechtliche Existenz und Unabhängigkeit von Deutschland. Sie sei sogar nicht nur juristisch nicht existent, sondern illegal. Das Deutsche Reich dagegen steht für sie völkerrechtlich fort. Sie halten an den Grenzen von 1937, von Breslau bis Königsberg fest und halten Deutschland für besetzt. Dazu verweisen sie auf die Militärpräsenz der USA oder anderer Staaten. Sie versuchen daher, ihre eigenen Staatsstrukturen aufzubauen, indem sie eigene Ausweise erstellen. Oder sie verweigern sich, Steuern zu zahlen, da sie ja „Bürger des Deutschen Reichs“ sind.
Diese politisch weit rechts einzuordnende Bewegung unterstützt Naidoo. Am Tag der Deutschen Einheit 2014 trat Naidoo vor dem Reichstagsgebäude bei einer Friedenskundgebung der Reichsbürgerbewegung auf. Er begab sich dort unter Verschwörungstheoretiker und Rechtsextreme, die sich als staatenlos bezeichnen. Laut Medienberichten war unter den Teilnehmern auch der Berline NPD-Chef Sebastian Schmidtke. Dabei bezweifelte Naidoo auch die Darstellung der Anschläge am 11. September 2001 in New York. Danach sprach er vor einer Mahnwache für den Frieden, die von Sozialwissenschaftlern eindeutig als rechtsextrem eingestuft wird. Der Eurovision Song Contest gilt, ähnlich wie die Olympischen Spiele, als ein Musikerwettstreit, der alle Länder Europas oder europanahe Länder, zu einem friedlichen Wettstreit über Musik einlädt. Noch letztes Jahr gewann Conchita Wurst den Eurovision Song Contest für Österreich und löste eine neue, ebenfalls kontroverse Diskussion über Toleranz aus. Und nun sollte ein deutscher Musiker, der öffentlich Kontakte zu rechtsgerichteten Bewegungen hält, Deutschland 2016 auf dem ESC vertreten?
#KassiererStattNaidoo
Gleich einen Tag später äußerte das Publikum nicht nur seinen Unmut über die Nominierung von Xavier Naidoo via Twitter oder Facebook. Es folgten auch Taten. Einen Tag nach der Kandidatur wurde auf change.org die Online-Petition „Gegen die Teilnahme von Xavier Naidoo am Eurovision Song Contest 2016“ erstellt, welche über 13.000 Unterstützer gefunden hatte. Andere Gegner machten sich bereits auf die Suche nach einem Gegenkandidaten, den sie in der Punk-Band „Die Kassierer“ fanden. Sie verbreiteten ihr Anliegen ebenfalls durch eine Online-Petition auf change.org und durch den Hashtag #KassiererStattNaidoo mit folgender Begründung:
„Die Kassierer erfreuen seit vielen Jahren die Menschen mit ihrer Musik – und im Gegensatz zu einem anderen Musiker, den die ARD zum ESC schicken will, glauben sie weder daran, dass Deutschland eine GmbH ist, noch, dass das Land besetzt ist. Wer nicht mit einer Tüte auf dem Kopf herumlaufen möchte, weil Xavier Naidoo beim ESC auftritt, sollte diese Petition unterzeichnen.“
Dieser Weg, wird kein leichter sein…
In diesem Falle behält Naidoo in seinem Lied „Dieser Weg“ Recht. Der Weg, einen neuen Kandidaten zu finden, wird jetzt wohl nicht leichter sein. Aufgrund des medialen Drucks hat der NDR nach zwei Tagen Shitstorm Naidoos Kandidatur zurückgezogen. Jetzt stehen wieder alle Wege, „unseren Star für Stockholm“ zu finden, offen und diese gilt es zu nutzen. Neben all den Kontroversen, um Naidoos politische Gesinnung wurde die Vorgehensweise des NDR stark kritisiert. Spätestens nach dem großen Erfolg von Lena, die heute eine erfolgreiche deutsche Pop-Künstlerin ist, hätte der NDR die mediale und auch internationale Bedeutsamkeit dieses musikalischen Großereignisses bewusst sein müssen. Dementsprechend sensibel muss bei der Wahl des Kandidaten vorgegangen werden. Der Kandidat repräsentiert unser Land, nicht nur seine Musik und Person im Ausland. Ich finde, gerade wegen der deutschen Geschichte muss der Repräsentant unseres Landes politisch vertretbar sein.
Wäre Naidoo in einem Wettbewerb, wie Lena, vom Publikum aus freien Stücken gewählt worden, wäre es wohl nie so weit gekommen. Dem Publikum wollte der NDR dieses Jahr nicht die Möglichkeit geben, über die Wahl des Kandidaten mitzuentscheiden. Das Mitentscheidungsrecht wollte sich das Publikum über Online-Petitionen erstreiten. Wie demokratisch diese Petitionen wirklich sind, ist fraglich. Naidoo-Befürworter haben im Netz stark kritisiert, dass es nur eine Anti-Naidoo-Petition gab, aber keine Petition der Befürworter von Naidoo. Das ist auch nicht besonders demokratisch und zeigt, wie eine Teilöffentlichkeit die öffentlich-rechtlichen Sender dazu bewegen kann, ihre Entscheidung über Bord zu werfen. Die Frage ist, ob sie dazu wirklich berechtigt ist. Die Macht der Social Media hat sich erneut gezeigt.
Auch die Gegenkandidatur der Punk-Band „Die Kassierer“ ist fraglich. Repräsentiert eine Band, die gerne splitternackt mit einer Bierflasche in der Hand auf der Bühne steht, wirklich angemessen unser Land? Die Betreiber der Petition diffamieren Naidoo öffentlich. Und demokratisch ist sie ebenfalls nicht.
Nicht zuletzt hat der NDR sich ein Eigentor geschossen. Wollte er vermutlich mit der eigenen Kandidatur genau das Dilemma um die plötzliche Erstplatzierte Ann-Sophie verhindern? Dieser Schuss ist definitiv nach hinten losgegangen. Ganz egal, ob es jetzt ein Casting geben wird oder ein neuer Kandidat benannt wird, es wird immer die zweite Wahl bleiben. Nun bleibt nur zu hoffen, dass der NDR daraus etwas gelernt hat.
Und in diesem Falle behält Naidoo Recht:
„Dieser Weg wird kein leichter sein
Dieser Weg wird steinig und schwer
Nicht mit vielen wirst du dir einig sein
Doch dieses Leben bietet so viel mehr…“
Welchen Kandidaten auch immer es auf dem ESC 2016 für Deutschland geben wird, das Leben geht weiter.
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