Eines hat mir meine Tante schon früh gesagt: Jeder Mensch ist etwas ganz Besonderes. Ich spüre das, jedes Mal, wenn wir zusammen telefonieren. Ich möchte Dir einen Brief schreiben – auch wenn ich nicht weiß, wie gut Du ihn verstehen könntest.
Liebe Tante Anja!
Die Tage rücken näher. Schon bald ist wieder Dein Geburtstag. Es ist schon der 46igste. Wow! An jedem Deiner Geburtstage staune ich, wie lange wir uns nun schon „kennen“ – denn nichts ist selbstverständlich. Obwohl wir uns eigentlich seit meiner Geburt kennen, weiß ich leider nur von Fotos und Erzählungen, dass du es immer geliebt hast, mich und meine Schwester als Baby zu halten. Eine so stolze Tante warst du – und später sagtest du uns immer wieder, auch ganz unvermittelt und für andere, die dich nicht so gut kennen eher unverständlich: „Ich bin doch deine Tante!“
Noch heute liebe ich das breite Lächeln in deinem Gesicht, wenn wir uns sehen! Da war immer diese ganz besondere Freude, eine ganz enge Verbindung zwischen dir und mir, die ich noch heute kaum in Worte fassen kann. Es ist das Lachen und Lächeln, das dich jeden Tag auszeichnet. Es ist pure Freude für dich, wenn es an Geburtstagen ein Gläschen Sekt gibt, wenn Musik läuft und du einfach vom Tisch aufstehst und anfängst zu tanzen, egal wer zuschaut.
Oma und Opa hatten es zwar nicht immer leicht, denn als du geboren wurdest, vor fast schon 50 Jahren, war die Denkweise der Nazis noch in der ganzen Gesellschaft zu spüren. Doch sie waren mutig, liebten dich und wollten dich nicht verstecken – das ist auch heute noch so, obwohl man merkt, dass sie heute immer noch schnell verunsichert sind, wenn du in der Öffentlichkeit auf Fremde zugehst oder deinen eigenen Willen durchsetzen möchtest. 😊 Sie glauben auch heute daran, dass diese Gesellschaft eine bessere für dich ist und ich versuche ihnen zu sagen, dass die Menschen heute toleranter geworden sind und damit besser umgehen können.
Sie sind dir nicht böse, wenn du laut vor dich hinsprichst, was dich gedanklich beschäftigt – und verstehen tun es die meisten sowieso nicht. Weißt du noch, wie du einmal für deinen Lehrer schwärmtest, den du jeden Tag sahst? Ich glaube er fühlte sich unglaublich geehrt, auch wenn er schon vergeben war… 😉 Ich denke du hast einfach auch deine Wünsche und Vorstellungen von einem ganz normalen Leben – und auch der Wunsch eine eigene Familie zu haben ist Teil davon. Es ist schwer dir zu erklären, warum heutzutage viele Kinder, die wie du eben einzigartig sind, gar nicht mehr auf die Welt kommen dürfen, weil man sagt, sie haben eine geringere Lebensqualität. Ich glaube du wärst da anderer Meinung. Du zeigst es mir jedes Mal, wenn wir uns sehen oder auch nur über’s Telefon hören, und ich bin dankbar, dass wir als Familie immer zusammenhalten.
Mama hat in dir eine Schwester gehabt, mit der sie schon früh verstanden hat, was Fürsorge und Verantwortung bedeuten. Ich kann mir vorstellen, dass sie manchmal auch über andere Themen mit dir gesprochen hätte. Aber weißt Du: Das alles ändert doch nichts an ihrer Liebe zu dir. Immer wieder haben wir in den Fotoalben geblättert und Bilder vom Kinderfasching gesehen. Tanzen überhaupt war für Dich immer noch das Größte … 😊 Einmal hat sie mir gesagt: „Man spürte einfach, dass sie glücklich ist, wenn man mit ihr zusammen war und strahlt so eine Lebensfreude aus.“ Das hat mich darin bestätigt, dass du ihr auch eine Menge zurückgegeben hast.
Auch wenn es für Oma und Opa manchmal anstrengend ist, mit dir so früh aufzustehen, damit du zur Arbeit kommst, machen sie es gern. Sie begleiten dich zum Taxi, das dich jeden Tag abholt und wieder nach Hause bringt. Und wenn du Feierabend hast, steht das warme Essen schon auf dem Tisch und du wirst sehnsüchtig erwartet. Sogar, wenn es „gute Gründe“ sind wie Kaffeetrinken mit der „Lebenshilfe“. Das ist ein Verein, bei dem du schon so viele schöne Stunden verbringen durftest – eine Mischung aus Therapie und Freizeit – es tut dir gut, dort zu sein. Früher hast du mir immer stolz im Kalender gezeigt, wann das nächste Treffen mit der Gruppe ist. Es ist ein guter Ausgleich zur Arbeit, doch auch da bist du besonders früher sehr gern hingegangen und hast begeistert erzählt, was du alles gemacht hast: mal was Kreatives, mal produktiv. Urlaub mochtest du gar nicht, das finde ich beeindruckend! 😊
In der Einrichtung habt ihr vielleicht simple Dinge erstellt aber die Wahrheit ist, dass die großen Sachen erst durch Eure Arbeit funktionieren können. Ich habe das alles gesehen, als du mich auf die Arbeit mitgenommen hast, mir alles gezeigt hast. Deine Kollegen sind alle so unterschiedlich. Manche sitzen im Rollstuhl und haben körperliche Einschränkungen, andere sind physisch fitter, aber tun sich schwerer, sich in Worten auszudrücken. Und mal ehrlich – das ist ja auch ganz normal und menschlich, dass es auch Leute gibt, die einem weniger sympathisch sind. 😊
Was hätte ich ohne Dich alles verpasst! Du würdest wieder lachen, wenn ich Dir das am Telefon sage. Und trotzdem denke ich auch – etwas wehmütig – nach vorne: Man sagt, du alterst anders. Und es ist schwer für mich, mir vorzustellen, was alles in dir vorgeht. Ob du meine Fragen verstehst, wie dein Tag war und auf was du dich freust. Ob du sie verstehst aber nicht mehr richtig ausdrücken kannst, was du sagen willst oder ob es einfach ist, dass du dich freust, am Telefon meine Stimme zu hören. Das Grinsen ist kaum zu überhören. Früher haben wir an Weihnachten zusammen Flöte gespielt – mal besser, mal schlechter aber immer mit Herzblut. Du malst mir Bilder und schreibst deinen Namen drauf – wie wertvoll ist das für mich!
Ich freue mich über jeden Besuch und jede Umarmung von dir und bin gespannt, was wir noch gemeinsam alles erleben dürfen!
Innig, deine (Nichte) Michaela
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