Ein Trendwort unserer Zeit, das gerade in sämtlichen Kreisen die Runde macht: „Achtsamkeit“, ein stets gefördertes und geschätztes Konzept, das entlastet und uns in den Moment zurückholen soll. Doch inwiefern kann Achtsamkeit einem selbst gegenüber praktiziert werden, ohne den Mitmenschen zu vergessen? Ein paar Denkanstöße dazu findet ihr hier.
Wenn mir in den letzten Monaten eines aufgefallen ist, dann dass das Wort „Achtsamkeit“ und das dahinterstehende Konzept irgendwie in aller Munde sind… Bei Blinkist höre ich mir immer wieder gerne die Zusammenfassungen aktueller Bücher an. Warum? Weil es mich interessiert, „was gerade so abgeht“, was die Leute so sehr beschäftigt, dass sie sogar Bücher darüber schreiben. Interessanterweise begegnet mir der Gedanke der Achtsamkeit fast in jedem zweiten Buch und ich frage mich, was ihn so attraktiv, ja so relevant macht für unsere heutige Zeit, dass sogar Manager und Führungskräfte darauf schwören?
„Achtsamkeit“ – was steckt eigentlich dahinter?
Das Konzept der Achtsamkeit stammt aus dem Buddhismus und umfasst mehr als das am meisten betonte „Sein im Moment“. Da geht es um das Einüben bestimmter innerer Haltungen: Anfängergeist, Unvoreingenommenheit, Akzeptanz, Nicht-Streben, Seinlassen, Geduld, Vertrauen, Dankbarkeit und Großzügigkeit, manchmal auch um ein (Selbst-)Mitgefühl… . Es steckt also eine ganze Weltanschauung dahinter, die den meisten jedoch wahrscheinlich gar nicht wirklich bewusst ist. Vielmehr machen die Schlagwörter die Runde, oft auch auf Englisch: „awareness“ oder „mindfulness“ sind chic, akzeptiert, und man findet viele Kurse, Blogs und Apps dazu. Jedoch fällt mir auf, dass es meistens dabei hauptsächlich um das Wahr- und Ernstnehmen der eigenen Gefühle geht. Ich weiß nicht, ob man Buddhist werden muss, um diese inneren Haltungen einzuüben, klingen sie im Großen und Ganzen ja sehr nobel.
Wenn wir also einmal bei dem bewussten Erleben der Gegenwart bleiben, ist es ja im Grunde etwas Gutes: dass ich tatsächlich esse, wenn ich esse und meine Aufmerksamkeit nicht von meinem Smartphone gefangen nehmen lasse. Ich bin ganz im Moment. Ich schmecke bewusst, lasse mir Zeit/hetze nicht, genieße. Manche würden dazu noch das Konzept der Nachhaltigkeit betonen, das momentan die Runde macht und tatsächlich zu einem allgemeinen Umdenken im Hinblick auf das (Umwelt-)Bewusstsein beiträgt.
Soweit so gut. Ich bin überzeugt, dass unsere Generation wieder neu lernen muss, sein Müsli zu essen, ohne dabei WhatsApp, Youtube oder Instagram zu bedienen – ja! Ich habe auch nichts dagegen, auf sein Innenleben zu achten und die oben genannten Schlagwörter, die Buddha praktizierte, klingen grundsätzlich wirklich toll…
Doch was, wenn sich im Namen der Achtsamkeit auf einmal alles nur noch um mich dreht? Um meine Gefühle und Wahrnehmungen, was mir guttut, was ich gerade tue oder auch nicht? Wenn meine ganze Konzentration und Aufmerksamkeit in erster Linie mir selber gilt und nicht meinem Nächsten?
Buddha und die Achtsamkeit – Jesus und die Selbstlosigkeit – was ist das für eine Kombi?
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ – das hat Jesus selbst gesagt – und ja: es gibt viele Menschen, die sich selbst nicht lieben können, nicht gut genug für sich sorgen und deshalb auch andere nicht lieben können.
Denke ich an das Konzept der Achtsamkeit, würde ich sagen: Wer nicht für sich selbst sorgt, und sich z.B. keine Pause gönnt, hat anderen Menschen nur wenig zu geben und ist gestresst. Auch Christen tun sich manchmal schwer damit, sich selbst zu lieben. Vielleicht schwingt da auch eine Sorge mit, egoistisch zu sein, eben keine selbstlose Liebe zu praktizieren, wenn man auf sich selbst achtet. Ich glaube, dass das Thema Achtsamkeit deshalb auch in christlichen Kreisen ein echter Dauerbrenner wird, weil man eine Art von „Entlastung“ spürt: ich darf auch nach mir schauen, das ist okay. Ich glaube diese Botschaft muss und soll gehört werden.
Ich glaube, dass der große Hype um „Achtsamkeit“ vor allem damit zu tun hat, dass Menschen sich überfordert fühlen mit den Erwartungen anderer und man sich am liebsten zurückziehen würde in sein Schneckenhaus. „Jetzt bin ich dran!“ – aus meiner Sicht völlig menschlich und verständlich…
Doch wenn Achtsamkeit ein Vorwand für so etwas wie Faulheit wird, wenn es ausschließlich um Selbstbestimmung, meine Wünsche, meine Ideen, meine Gedanken und Bedürfnisse geht, schießt man über das Ziel hinaus. Die ganze eigene Konzentration und Kraft gilt einem selbst und fehlt den Mitmenschen an so mancher Stelle. Welchen Stellenwert hat dann ehrenamtliches Engagement, wenn es nicht auch um den Dienst am Mitmenschen geht? Geht es letztendlich nur um mein eigenes Selbstwertgefühl?!
Doch wenn ich an Jesus denke, fällt mir auf, dass er irgendwie beides geschafft hat: er war immer voll im Moment – auch im Gespräch mit einem Menschen innerhalb einer ganzen Volksmenge – ganz im Moment, voll da – aber nicht bei sich selbst, sondern beim andern. Wer die Evangelien unter dem Gesichtspunkt der Bedürfnisse Jesu liest, dem fällt auf: Er hatte Hunger, er war müde, er wollte sich auch mal zurückziehen… Doch in der Begegnung mit Menschen, die Sehnsucht hatten nach dem, was er ihnen zu sagen hatte, stellte er sich selbst zurück und diente ihnen.
Oder hat jemand schon einmal eine Predigt gehört darüber, wie Jesus eine Menschenmenge wegschickte, weil er gerne schlafen würde? Warum Jesus bei diesem enormen Pensum, besonders in den drei Jahren seines öffentlichen Auftretens kein Burnout bekam? Er ließ sich versorgen von seinem Vater im Himmel mit dem, was er brauchte. Er schlief auch. Er aß. Er genoss die Gemeinschaft mit anderen. Doch sein Fokus lag nicht bei ihm selbst, sondern bei seinem Auftrag. Jesus war mutig zu dienen, auch wenn er selbst oftmals andere Bedürfnisse hatte. Er hatte keine Angst, zu kurz zu kommen.
Das heißt für mich konkret: ja, ich darf Termine absagen, wenn mir gerade alles zu viel ist. Ich möchte Momente bewusst genießen, nicht immer abgelenkt sein. Wenn ich mit jemandem im Gespräch bin, möchte ich nicht getrieben sein von meiner never-ending-to-do-list. Ich möchte gut mit meinem Körper umgehen. Doch ich will auch nicht zulassen, dass ich mich im Namen der Achtsamkeit aus meiner Verantwortung ziehe, meinen Mitmenschen zu sehen und ihnen zu dienen. Ich glaube, dass man auch und vielleicht gerade dann, wenn man sich überwinden muss, jemanden, der einsam oder hilfebedürftig ist zu besuchen, obwohl man sich lieber auf die Couch legen möchte die erfüllendsten Begegnungen und Momente erleben kann, weil es nicht nur um mich selbst gehen soll in meinem Leben, sondern weil ich möchte, dass ich als Christ in unserer Gesellschaft meine Verantwortung wahrnehme und Gottes Liebe an andere weitergebe – ohne dabei zu kurz zu kommen.
Daher wäre mein Appell an die Anhänger der Achtsamkeit: erlebt die Gegenwart bewusst. Genießt euer Essen, hört in euch hinein: was fühle ich gerade? Das alles ist hilfreich und ich möchte es gar nicht schlechtreden. Doch überhört nicht den Nachbarn, der gerade kurz deine Hilfe braucht und zieh dich nicht zurück, nur weil es gerade bequemer ist. Sei nicht achtsam um der Achtsamkeit willen, sondern setze die gewonnene innere Stärke für andere ein.
Schreibe einen Kommentar