Du bist die Frau, die mir das Leben geschenkt hat und damit hast du wohl deinen Job getan. Denn alles, was danach passierte, hat mit der Bezeichnung einer Mutter nicht viel gemein. Ein Brief über meine schwierige Kindheit.
Irgendwann sagtest du mir beiläufig, dass ich ja bereits als Baby fast gestorben wäre. Mit einem Herzfehler kam ich viel zu früh auf diese Welt und musste mir mein Leben im Brutkasten erstmals erkämpfen. Das habe ich geschafft, doch die Kämpfe wurden noch schlimmer.
Ich kann mich nicht entsinnen, ab wann die Gewalt gegen mich und meine Geschwister anfing. Ich glaube, sie war schon immer da, seit ich lebe und denken kann.
Ich erinnere mich an Szenen, in welchen du mit diesem ekelhaften tunesischen Mann, den du bald heiraten würdest, weil es mit meinem Vater und dem Vater meiner älteren Halbschwestern nicht geklappt hat, an dem Glastisch gesessen hast. Der Tisch war gedeckt mit Bierdosen, überfüllten Aschenbechern, Tabak und Zigarettenhülsen. Es war dreckig und es stank in der gesamten Wohnung nach Zigaretten und Bier. Ich saß zu deinen Füßen auf dem Boden und spielte. Konnte man es spielen nennen, wenn mein Bruder und ich uns permanent um die eigene Achse drehten und dann schwindelig und torkelnd durch das Wohnzimmer taumelten?
Ich erinnere mich nicht an Spielsachen. Lediglich an einen roten und blauen Plastikstuhl, welchen mein Bruder und ich umdrehten und „Autofahren spielten“, indem wir diesen einfach über den Teppichboden gleiten ließen. Deine Stimme war immer viel zu laut und eigentlich warst du immer nur am Schreien. Besoffen warst du ständig, hast dein widerliches Leben im Suff versenken wollen. Dass ich und meine Geschwister auch noch da waren, war dir egal. Wir interessierten dich nicht. Und ständig schriest du uns an, dass wir ins Kinderheim kämen, wenn wir nicht lieb seien. Während du uns mit einem Schuh auf die Fußsohlen schlugst. Oder uns mit dem Kochlöffel hinterher ranntest, um Schläge zu verteilen. Immer wieder.
Ich hatte immer Angst vor dir. Dein doofer Freund aß Kuh-Köpfe, die im Kühlschrank aufbewahrt wurden. Sie machten mir große Angst. Das nahm dein Freund wohl zum Anlass, mich über den Boden zu jagen und mir immer wieder anzudrohen, dass er meinen Kopf essen würde. Das fandest du nur lustig. Ich hatte panische Todesangst, denn ich dachte wirklich, dass mir dieser Mann Schlimmes antun würde. Nirgends war ich sicher. Nie gabst du mir Sicherheit und Zuversicht. Oder Liebe. Von dir gab es immer nur Schläge und demütigende Worte. Dein Bruder, Onkel Kurt, beleidigte uns als Spaghetti-Fresser und näherte sich auch unsittlich an. Eine Zuneigungsgeste? Weit gefehlt. Bedürfnis-Erfüllerin durfte ich spielen – im Alter von drei oder vier Jahren. Und auch dies war dir wohl egal. Du hast nie auf mich aufgepasst.
Mein Vater kam damals noch öfter vorbei und versuchte mich und meinen Bruder, da raus zu holen. Doch du erzähltest uns, wie böse unser Vater sei und dass er uns entführen wollte. Verstecken mussten wir uns, damit er uns nicht mitnehmen konnte. Im Wohnzimmer schlug er sich mit deinem Freund und ich hatte mich vor Angst unterm Bett in unserem verwahrlosten Kinderzimmer versteckt. Ich weiß auch noch, wie eine meiner älteren Schwester uns rausgebracht hatte, damit wir uns dort in einem Gebüsch verstecken sollten. Ich habe das alles nie verstanden. Und mein Vater ging, ohne uns mitzunehmen. Und ich war weiter gefangen in der Hölle, die du errichtet hattest.
Und irgendwann wurden deine Versprechen, dass wir ins Heim gesteckt würden, wahr. Ich war fünf Jahre alt und wir Mädchen kamen alle weg. Also war mein Bruder scheinbar lieb und wir Mädchen alle böse. Dass ich bis heute denke, dass ich ein böser Mensch bin… – Auch das ist dir egal. Weil dir schon immer alles egal war.
Als wir dann im Heim waren, kamst du mich nie besuchen, wenn du es solltest. Dies wurde mir mitgeteilt von den Erziehern. Immer wieder. „Deine Mutter kommt nicht!“. Oder ich saß stundenlang am Fenster bis zum Abend schaute sehnsüchtig die Straße hinauf und du kamst nicht. Immer saß ich da voller Hoffnung, dass du endlich kommen würdest , um mich abzuholen und mir zeigst, dass du mich lieb hast. In meiner Verzweiflung habe ich mir oft eingeredet, dass dies alles nicht die Wahrheit sein kann, dass ich eigentlich zu Hause bei dir in meinem Kinderbett schlafe und dass das alles hier nur ein wirklich schlechter Alptraum ist. Doch leider nein. Es war die traurige Wahrheit, mit der ich aufwuchs.
Nicht geliebt zu werden, ist wohl die schlimmste Bestrafung für einen Menschen. Denn dieser Mensch wird sein Leben lang eine so tiefe innere Leere verspüren, die ihn vom Rest der Welt abtrennt. Und zeitgleich ist es die tiefste Sehnsucht, auch von mir, mich mit anderen Menschen zu verbinden. Doch Nähe schmerzt und ist bedrohlich! Sie stresst mich und ich halte es nicht aus, wenn mir ein Mensch liebevoll begegnet.
Weißt du, ich hasse dich für all das! Ich hasse dich dafür, dass du dich nicht einfach, wie eine Mutter verhalten konntest. Ich hasse dich dafür, dass ich wegen dir nun derartige Schwierigkeiten habe, eine Beziehung einzugehen. Ich hasse dich dafür, dass ich niemandem vertrauen kann und hinter allem Böses vermute, weil du es warst, die mich das Leben so gelehrt hat. Wie soll man die Dinge wieder herausbekommen, die du mir eingeprügelt hast?? Doch ist es wirklich Hass? Ich verspüre eine tiefe Verachtung für dich, die weh tut und mich in meinem eigenen Leben behindert.
Ich bin jetzt fast 35 Jahre alt und an einem Punkt in meinem Leben angelangt, an dem all das raus will. Ich will dich nicht mehr in mir und meinem (Unter-)Bewusstsein tragen. Ich verachte dich und will mit dieser Sache abschließen können, um ein Leben zu führen, welches ich verdient habe! Und vielleicht kann ich dir auch irgendwann für all das vergeben. Nicht dir zuliebe, sondern für mich und meinen Seelenfrieden.
Djami
Super Artikel ich bin stolz auf dich das du so mutig bist das veröffentlicht hast;))))))
Lisa Gebler
Liebe Josephina, chapeau für diesen Mut! Du bist eine starke Frau! Größten Respekt dafür, dass du dich traust, deine Geschichte zu teilen und damit auch anderen zu helfen!
Gabi
Liebe Josephina, Du hast Schlimmes erlebt und es macht mich sehr nachdenklich, was Du da berichtest. Ich bin selber Mutter – vielleicht habe ich deshalb nochmal eine andere Perspektive. Ich wünsche Dir, dass Du eines Tages Deiner Mutter auch vergeben kannst. Zorn, Wut und das Rausschreien einer Verletzung können uns in Bewegung setzen, etwas verändern. In schlimmen Lebenslagen ist das für viele ein wichtiger Schritt. Aber wenn der Hass sich im Herzen festsetzt, frisst er uns selbst von innen auf. Dann bringt nur die Vergebung den Frieden, den unser Herz sucht. Wenn Du auf Dein Herz hörst, wirst Du sicher spüren, wann es sich selbst nach dieser Vergebung sehnt. Dir für Dein weiteres Leben viel Glück und Heilung!
Gabriele Hauer
Ich habe deinen Brief gelesen Josephina, und er hat mich beeindruckt. Ich habe nichts dergleichen Schreckliches mit meinen Eltern erlebt, sicher aber anderes Zeug, das mich in eine manchmal als Rumpelstilzchen Agierende, wutdurchströmte, dissoziative Frau verwandelt. Ich bin 66, habe einen Sohn, 27. Meine Wutanfälle richten sich in erster Linie an nahe Verwandte, auch an Menschen, von denen ich mir mehr Nähe erwartet hatte. Ich bin 66, mein Mann schon seit 5 Jahren tot (er hat ganz viel vom Rumpelstilzchen abgekriegt und ich leide bei dem Gedanken daran immer noch). Jetzt hat auch mein geliebter Sohn meine Wüterei als gegen sich gerichtet erlebt. Es ist furchtbar. Trotz Therapie und Einsicht schwappt die Wut immer wieder hoch, vor allem dann, wenn ich gar nicht damit rechne und: sie geht nicht gegen den, der grade dabei ist! Ich schreib dir das nur, weil ich sehr ergriffen war von deinem Brief und er war sicher nötig. Aber genau wie Gabi oben (ich bin auch Gabi) wünsch ich dir und deiner Ma Begegnung, Vergebung, Liebe. Vielleicht geht´s ja doch noch!!
Josephina Petersen
Hallo Gabi,
herzlichen Dank für deine offenen Worte zu meinem Artikel.
Ich freue mich, dass du durch die Therapie in die Reflektion gehen konntest und deinen eigenen Anteil sehen und anerkannt hast. Dies erfordert eine Unmenge an Mut und Stärke sich dies einzugestehen… Jeder hat immer den Blickwinkel aus seiner eigenen subjektiven Wahrnehmung. Demnach hoffe ich, dass du und dein Sohn da eine für beide Seiten übereinkommende Versöhnung zelebrieren könnt. Doch dies ist nicht für alle unter uns bestimmt. Und das ist auch ok. Eine Vergebung kann auch ohne die Anwesenheit oder das Zutun des anderen geschehen. 🙂