Reisen ist kein Allheilmittel für Ausreißer. Trotzdem kann es uns dabei helfen, Betrachtungen anzustellen und Erlebtes einzuordnen. Wie so etwas aussehen kann, zeige ich euch an einem Beispiel. Eine Selbstbetrachtung aus meiner eigenen Reise.

Der Regen prasselt schwer auf das Dach und fließt in Strömen an mir vorbei. Es ist kalt und ich verkrieche mich tiefer in einen Berg aus Wolldecken. Sitzend lehne ich an einem massiven runden Holzbalken, der die Mitte des Vordaches über mir hält. Der Terrassenboden unter mir ist um einen halben Meter erhöht und besteht ebenfalls aus Holz, so wie das ganze Geschosshaus, dessen Baumaterialien nur noch um Papierwände, Lehm und schwarze Dachziegel ergänzt wurden. Ganz im traditionellen Stil, tief in der Bergwelt Südkoreas, wo ich mich seit etwa einem Monat aufhalte. Gewaltig ragen die Gipfel und Hänge ringsherum empor, der Himmel ist dunkelgrau. Durch den Regenschleier erkenne ich die Schemen der hier typischen Nadelbäume und höre das hölzerne Rasseln der dichten Bambuswälder, wenn der Wind durchfegt.
Hauptsache weg
Mehr als ein Jahr ist meine Abreise in den asiatischen Raum her, aber nach Deutschland will ich gar nicht zurück. Schwer zu sagen, was mich an meiner alten Heimat so abschreckt. Ich hatte keine unglückliche Kindheit. Meine liebevolle Familie hat mich während der Reiseplanung unterstützt und der kleine aber enge Freundeskreis reist selber noch durch die Weltgeschichte. Mobbing war zugegebenermaßen ein Thema in meiner Jahrgangsstufe, aber diese Erfahrung machen viel mehr Jugendliche, als man meint. Dass ich in meiner Gymnasialzeit auch schon Täter gewesen bin, machte die Opfererfahrung aus meiner Sicht beinahe notwendig. Wütend oder traurig bin ich mittlerweile nicht mehr. In den neuen Freundschaften in Fernost habe ich die Art von Akzeptanz und inneren Frieden gefunden, nach denen ich mich so sehr gesehnt hatte.
Ich verlagere mein Gewicht ein wenig und spüre sofort das Ziehen meines Muskelkaters. Die landwirtschaftliche Arbeit nahe der koreanischen Kleinstadt Namwon demonstriert mir täglich, dass ich dafür nicht gebaut bin. Heute waren es kiloschwere Baumstümpfe, die wir per Hand in Treibhäusern gestapelt haben. Hitze und Feuchtigkeit lassen darauf Pilze wachsen, die essbar und auf dem Wochenmarkt in Namwon verkäuflich sind. Ich könnte damit leben, wären nicht die handtellergroßen Spinnen, die ihre goldfarbenen Netze auf Schritt und Tritt in den Treibhäusern gespannt haben. Als Phobiker ein Albtraum. Nächste Woche steht die Reisernte an, wo mir hoffentlich nur Krabbler in annehmbarer Größe begegnen werden.
Der Regen prasselt unvermindert weiter. Ich greife nach einer Tasse dampfenden Tee neben mir und bemerke, dass mein Arm von den Anstrengungen des Tages zittert. Vorsichtig setze ich die Keramik an meine Lippen. Das Aroma einer mir unbekannten Pflanze lässt mich für einen Moment selig die Augen schließen. Meine andere Hand wandert zu einem Teller Reiskuchen. Beinahe geschmacklos, abgesehen von einer faden Süße, habe ich diese Art Gebäck anfangs ignoriert. Bis ich herausfand, dass wenn man die Stücke nur lange genug kaut, sich der tatsächliche Geschmack entfaltet. Für jemanden wie mich, der sein Essen stets in sich hineingeschlungen hat, ist das eine völlig neue Erfahrung. Glücklich kauend schaue ich auf das verregnete Panorama und lasse die Gedanken wieder kreisen.
Die Suche nach Nähe
Es ist sehr einsam hier, abseits der Straßen und Städte an einem Berghang. Meine Arbeitgeber sprechen kein Wort Englisch und haben kaum Zeit, mir ihre Landessprache beizubringen. Instruktionen erhalte ich per Handzeichen. YouTube-Tutorials für die koreanische Sprache erwiesen sich bis jetzt als dürftiger Ersatz. Seit einem Monat habe ich kaum mehr als ein paar Worte mit anderen Personen gewechselt, vom Schriftverkehr in Social Media einmal abgesehen. Ich fühle mich einsam, was schräg ist, wenn man bedenkt, dass ich bisher auf meiner Reise immer Abstand zu anderen Westlern gehalten habe. Das war mein Credo: Sich bloß nicht unter Gleichgesinnten bewegen, keinen Augenblick der neuen Eindrücke in Asien verschwenden. Mittlerweile wäre ich für einen Gesprächspartner, mit dem ich mich über die Erfahrungen austauschen kann, sehr dankbar. Das Skypen gestaltet sich – trotz der unfassbar guten Internetverbindung in diesem Land – als schwierig, da meine Lieben am anderen Ende der Welt um diese Zeit schlafen.
Der Regen verdichtet sich. Das Grau der Wolken über mir weicht jetzt einem dreckigen Schwarz. Zeit, den Ofen anzuheizen. Widerwillig schäle ich mich aus den warmen Decken. Die Tür zu meinem Schlafzimmer schiebe ich einen Spalt weit auf, angle mir meine Jacke und schlüpfe in die Arbeitsstiefel. Beim Anblick der Regenwand zwischen mir und dem Anbau, in dem der Ofen steht, verziehe ich das Gesicht. Es hilft alles nichts. Mangels einer vorhandenen Matratze bin ich auf die Bodenheizung angewiesen und kaltes Duschwasser am frühen Morgen wäre der Horror. Ich sprinte durch den Regen und reiße die Tür des Anbaus auf. Wenigstens zweieinhalb Meter hoch und halb so breit füllt der Ofen fast den ganzen Raum aus. Mit Sägemehl und Scheiten mache ich darin ein kleines Feuer. Erst als die Belüftung des Ofens anspringt und die Flamme mit einem Mal in die Höhe schießt, werfe ich armdicke Äste und Holzplatten hinein. Das ganze dauert wenigstens eine Viertelstunde, bis das Feuer groß genug ist und ich die Tür des Anbaus wieder hinter mir schließe.
Zuneigung und Liebe
Unter dem Vordach wickle ich mich wieder in die Decken, nehme einen tiefen Schluck aus der Tasse und krame mein Handy heraus. Vier neue Nachrichten, drei davon stammen von Freunden aus Südostasien, wo ich vor meiner Ankunft in Korea gearbeitet habe. Wie es mir ginge, was ich jetzt mache und wann ich wiederkomme? Versonnen denke ich an meine ehemaligen Schüler in Thailand und Kambodscha und stelle mal wieder fest, dass sie mir sehr fehlen. Noch so eine Veränderung, denn bis vor meiner Reise waren Kinder für mich allenfalls ein notwendiges Übel. Niedlich, solange man sie als possierliche Tiere sieht, aber gemein und intrigant, sobald man ihnen einen eigenen Willen unterstellt.
Es gab mir ein seltsames Gefühl, als ich dann mit meinen Schülern zusammen in einem Heim wohnte, man mich nach einer Weile „großer Bruder“ nannte und fest in die Alltagsabläufe mit einspannte; ein Gefühl, dass ich als Einzelkind lange nicht einordnen konnte. Bei dem Gedanken wie niedergeschlagen ich am Tag des Abschieds war, muss ich heute selber grinsen. Die vierte und letzte Nachricht stammt von meinen Eltern. „Wir vermissen Dich sehr“. Lächelnd tippe ich meine Antwort. „Ich euch auch“. Mittlerweile ist es so dunkel, dass ich die Berghänge um mich herum nicht mehr sehen kann. Ich schließe die Augen und genieße das prasselnde Geräusch des Regens, meine Gedanken kreisend.
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