Die Regierung plant in einem neuen Gesetz die Unabhängigkeit des Obersten Gerichts Polen aufzuheben. Gegner demonstrieren in ganz Polen, die EU droht mit Stimmverlust in der Europäischen Union.
In Wrocław, Polen, standen am 20.07.2017 über 10.000 Demonstranten vor dem Rathaus auf dem Marktplatz und skandierten mit Rufen wie „Freiheit, Gleichheit, Demokratie“ gegen die Verabschiedung des neusten Gesetzes der Regierungspartei „Prawo i Sprawiedliwość“ (Recht und Gerechtigkeit, PiS). Das Gesetz, das erst am Dienstag, den 18.07. auf die Tagesordnung gesetzt wurde und innerhalb von wenigen Tagen durchgebracht werden soll, sieht vor, Richter des Obersten Gerichts in Ruhestand zu schicken und neue, von der Regierung ernannte Richter einzusetzen. Damit wäre das Oberste Gericht, das unter anderem über die Auslegung der Verfassung und der Anerkennung von Wahlen entscheidet, faktisch der Regierungspartei unterstellt und nicht mehr unabhängig.
Bisherige Gesetzesänderungen der Regierungspartei
2015 wurde zuerst im Mai der Präsidentschaftskandidat der PiS, Andrzej Duda, zum Präsidenten gewählt. Im Oktober folgten die Parlamentschaftswahlen, seit denen die rechtskonservative Partei PiS mit 37,6 Prozent aller Stimmen die absolute Mehrheit im Sejm, wie auch im Senat, stellt und als Regierungspartei von Beata Szydło geleitet wird.
Die neue Regierung geriet schnell ins Visier europäischer Medien und der Europäischen Union. Durch Gesetzesänderungen im Dezember 2015, die den Verfassungsgerichtshof lähmen, sowie der Kontrolle der staatlichen Medien durch eine Medienreform spürte man in ganz Europa die Angst vor dem Umbau der polnischen Staatsform und die Untergrabung des Rechtsstaats. Einen ersten Rückschlag erhielt PiS im September 2015, als eine Verschärfung des Abtreibungsrechts durch die Massendemonstrationen „Czarny Protest“ (Schwarzer Protest“) verhindert wurde.
Polnische Geschichte
Polen musste in seiner Geschichte oft unter seinen Nachbarländern leiden, die den Staat im Herzens Europa unter sich aufteilten, ihn besetzten und ihm eine Regierung aufzwangen, wie im Zweiten Weltkrieg durch Hitler und Stalin. Seit 1989 existiert die dritte polnische Republik, eine junge Demokratie. Auch in den Zeiten der Teilungen, in denen es keinen polnischen Staat gab, wurde die polnische Kultur gepflegt und der Wunsch einer staatenlosen Nation, wieder auf den Landkarten zu erscheinen, hielt an. Heute hat Polen daher ein großes Sicherheitsbedürfnis. So steht es Kritiken seitens der EU oder Deutschland sehr skeptisch gegenüber, auch die Annektion der Krim rief ungute Erinnerungen in Polen hervor. Durch Unzufriedenheit mit der Vorgängerregierung Platforma Obywatelska (Bürgerplattform, PO) und durch gute Sozialpolitikversprechen der PiS wählten vor allem junge und ältere Menschen die jetzige Regierungspartei, um eine Besserung ihres Lebens zu erwirken.
Die EU im Kampf um die Demokratie
Die Europäische Union leitete 2016 als Reaktion auf die neuen polnischen Gesetze ein Verfahren zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit in Polen ein, das bisher jedoch ohne Konsequenzen blieb. Nun droht Brüssel mit einem neuen Verfahren nach Artikel sieben des EU-Vertrags, der bei „schwerwiegender und anhaltender Verletzung“ der im Vertrag verankerten Werte als letzte, noch nie eingesetzte Möglichkeit Polen sein Stimmrecht in der EU entziehen kann.
Trotz des Drucks verabschiedete das polnische Parlament am 20.07.2017 die „Justizreform“ mit 235 Stimmen für (231 davon von PiS), 192 gegen das Gesetz und 20 Enthaltungen. Auch der Senat stimme dem Gesetzentwurf zu. Nur noch Präsident Duda muss das Gesetz unterschreiben.
Der Präsident als letzte Hoffnung?
„3xWeto“ und „freie Gerichte“ fordern Twitter-User vom polnischen Präsidenten Andrzej Duda, der bisher allen Gesetzesänderungen seit seinem Amtsbeginn zugestimmt hat und der Regierungspartei PiS angehört. EU Präsident Donald Tusk warnt eindringlich in einem Statement: „The situation, also in the international dimension, is really serious. And that is why we need serious measures and serious partners. Please try your best, Mr President.“ (Quelle: www.consilium.europa.eu) Der Präsident hatte zuvor ein Treffen mit Tusk abgelehnt. Heute, am 24.07.17, stellte sich der Präsident in einer Pressekonferenz gegen PiS. Er kündigte an, gegen zwei von drei neuen Gesetzen ein Veto einzulegen. „Es gibt keine Rebellion ohne Hoffnung. Es gibt keinen Sieg ohne Hartnäckigkeit #Katowice: die Stadt freier Menschen“ twittert Jarosław Makowski. Die Bürger in Polen gehen für ihre Rechte auf die Straßen. Längst nicht alle stehen hinter der Regierungspartei und ihren Gesetzen.
Massendemonstrationen in ganz Polen
In insgesamt 140 Städten in Polen stehen Demonstranten auf Marktplätzen, vor Gerichten und vor dem Regierungspalast. In den großen Städten wie Warschau, Krakau oder Breslau sind jeweils über zehntausende Bürger auf den Straßen. Sie singen die Nationalhymne, schwenken die polnische und europäische Flagge und bilden eine Kerzenkette. Sie rufen „Freiheit, Gleichheit, Demokratie“ und „Wrocław wird sich nie ergeben“. Die Proteste die schon seit Dienstag andauern, treiben derzeit jeden auf die Straße, der gegen die Regierung und gegen das neue Gesetz ist. Schon der achte Tag in folge, werden auch heute wieder zahlreiche Demonstrationen erwartet.
Die Stimmung sei dabei gemischt: Einerseits sei die Masse euphorisch, andererseits ratlos, was man noch unternehmen kann, um der Regierung etwas entgegenzusetzen, berichtet Jan Borree vor Ort aus Wrocław. Die Demonstrationen werden als letzte Chance gesehen, das geplante Gesetz zu verhindern. Es entstehe ein Zusammenhalt zwischen den Bürgern, die gegen die Regierung und die Gesetze sind. Das Zeichen der Bürger ist klar: Sie skandieren für die Demokratie und gegen eine Auflösung der Gewaltenteilung durch die Aushebelung der unabhängigen Legislative.
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