Im Artikel werden die Corona-Demos als Symptom der Postmoderne untersucht: was sich hinter den Demos verbirgt, ist ein Mix aus Bedeutungsverlust und legitimem Protest. Die Schlussfolgerung lautet: Corona-Demos gefährden Menschenleben, aber sie sind dennoch ein notwendiges Übel der Demokratie. Ein Kommentar.
Unter dem Hashtag #Aufstand folgt eine Artikelreihe von Timo Feilen, der sich den Corona-Protesten aus unterschiedlichen Blickwinkeln annähert. Seine Devise lautet dabei: Verstehen statt verurteilen!
Wo Rezo irrt
Wer sich die Corona-Demonstrationen anschaut, wird sich zunächst verwundert die Augen reiben. Nicht nur treffen hier unterschiedlichste Menschen aufeinander, sondern es ist der ‚Melting-Pot‘ der Symbole, der fast zu Ungläubigkeit führen mag: „Das kann doch nicht sein“, ist nicht selten die Reaktion derer, die einsehen müssen, dass sich hier Reichs- und Prideflagge gemeinsame Quadratmeter teilen. Auch der voreiligen Reaktion, es handele sich bei den Protestierenden um ‚Rechte‘, um ‚Verschwörer‘ und ‚Aluhüte‘, wird durch etwaige Studien zum Wählerverhalten der angeblichen Verrückten ein jähes Ende gesetzt. Ganz so einfach ist es scheinbar doch nicht.
Der heilige Gral der Linksliberalen – der YouTuber ‚Rezo‘ – verkündet in seinem millionenfach angesehenen Video „Wenn Idioten deine Freiheit und Gesundheit gefährden…“, man müsse mit einer ganz anderen Staatsgewalt gegen die rechten Corona-Leugner vorgehen. Die Welt des Rezo besteht abseits seiner Haare aus wesentlich zwei Farben: schwarz und weiß. Wenn Rezo wüsste, dass sich die ‚Querdenker‘ wohl aus ca. 21% Grünwählern zusammensetzen – würde er dann nach wie vor fordern, man müsse mit Wasserwerfern gegen die Menge vorgehen oder die Proteste ganz verbieten?
Für Rezo ist die ‚Faktenlage‘ klar, es gibt keinen Grund zum Protest, der Staat macht was er kann, der Lockdown ist notwendig, keine weiteren Fragen, Ende der Durchsage. Der Protestmenge wird in der Regel vorgeworfen, dass sie sich der Komplexität der Wirklichkeit verweigert. Umgekehrt müsste man aber auch Rezo vorwerfen, dass er zu jenen Komplexitätsverweigerern gehört. Nicht wenige Politiker können es sich leisten, darauf hinzuweisen, dass die Demonstrationen nicht nur geduldet werden müssen, sondern dass sie ein notwendiger Teil der Demokratie sind. Demokratie beruht eben nicht auf ‚Faktenlage‘, sondern auf Aushandlungsprozessen von diversen Meinungen.
Die radikale Überzeugung von seiner Position – wieder nehmen wir hier Rezo als Beispiel – ist noch kein ausreichender Grund dafür, Gegenmeinungen kategorisch zu dämonisieren. Hier hilft auch die ‚Nazikeule‘ nicht weiter. Sarah Wagenknecht dreht derzeit in Talkshows ihre Runden und erklärt ohne Unterlass, dass die faktisch stattfindenden Einschränkungen der Grundrechte problematisch sind und dass der Protest ein notwendiger Teil der politischen Debattenkultur ist: ein nicht geringfügiger Teil der Protestierenden hat völlig legitime Gründe, um zu protestieren. Man stelle sich nun vor, Sarah Wagenknecht würde nicht der Linken, sondern der AfD angehören – sie würde ohne Umstände zur Vordenkerin der ‚realitätsverweigernden Idioten‘ erhoben.
Hier gilt es auf den ersten Artikel zum postmodernen Protest zu verweisen: Es handelt sich bei den Corona-Demos zunächst um ‚Verhaltensrevolten‘ und nicht um klare politische Veranstaltungen. Die Menschen, die sich in Berlin und anderswo treffen, demonstrieren mit einem bestimmten Verhalten gegen bestimmte Verordnungen, die aber keinen per se (partei)politischen Charakter haben, sondern selbst auf das individuelle Verhalten der Menschen abzielen. Das Schwingen der ‚Nazikeule‘ ist ein Versuch, einer nicht primär politischen ‚Verhaltensrevolte‘ ein klares politisches Profil zu geben, wodurch eine moralisch gerechtfertigte Kritik ohne weiteres formuliert werden kann: der Protest ist rechts, also sind die Leute Idioten, also ist der Protest illegitim und zu unterbinden. Es ist nicht fraglich, dass sich unter den Protestierenden auch rechte Idioten finden und es ist auch legitim, die Verweigerung der Demonstrationsauflagen scharf zu kritisieren, jedoch bedarf es – will man die Proteste verstehen – eines zweiten Blickes.
Corona-Demos als Postmoderner Protest
Im vorangehenden Artikel wurden Kennzeichen des postmodernen Protestes genannt: 1. Das implizite oder explizite Wissen um die Unmöglichkeit eines ‚Systemwechsels‘, das durch die komplexe Ausdifferenzierung der Protestparteien begünstigt wird, 2. die popkulturelle Eventisierung des Protests, 3. die Unmöglichkeit einer konzisen Feindeskonstruktion. Die drei Idealtypen wurden wesentlich anhand der Proteste von 1968 generiert. Es bedarf keiner kombinatorischen Glanzleistung, um zu erkennen, dass sich auch die Corona-Proteste ohne jeden Zweifel in diese Struktur eingliedern lassen. Man kann gar soweit gehen und behaupten, dass es sich bei den Corona-Protesten um den postmodernen Protest schlechthin handelt. Es gilt, den normativen Diskurs hinter sich zu lassen, um zu erkennen, dass es sich bei den Protesten um ein erklärbares Symptom unseres Zeitalters handelt. Jean-François Lyotard urteilt, mit der Postmoderne sei das Ende großer Erzählungen eingeläutet: Die großen Bedeutungseinheiten, die in etwa von Religion und Wissenschaft aber auch politischen Institutionen gestellt werden, verlieren nicht nur an Bedeutung, sondern versinken teils in der Bedeutungslosigkeit.
Die großen Narrative haben ausgedient und werden ersetzt durch kreative Zusammensetzungen der postmodernen Existenzen. Ganze im Sinne des schon angeführten Pippi-Langstrumpf Prinzips baut man sich die eigene Welt nach dem Prinzip „ich mach mir die Welt, widewide wie sie mir gefällt“ zusammen. Man glaubt ein wenig an die Schulmedizin, ist aber auch der Homöopathie nicht gänzlich abgeneigt, man geht nicht mehr in die Kirche, glaubt aber an den christlichen Gott, praktiziert gleichzeitig Yoga und kennt sich im Buddhismus aus. Was heute völlig normal erscheint, wäre noch in den 50er Jahren völlig undenkbar gewesen. Der von Max Weber ausgemachte Prozess der „Entzauberung der Welt“ dauert zwar schon seit Ende des 18. Jahrhunderts an, jedoch schlägt er in der Nachkriegszeit um in eine neue kreative Sinngebung. Auch bei den Corona-Protesten handelt es sich um eine postmoderne Suche nach Sinn. Dass diese detektivischen Versuche weit übers Ziel hinausschießen, ist spätestens dann völlig klar, wenn sich hinter einem Virus die ganze Welt verbirgt.
Vor diesem Hintergrund sind die Verschwörungstheorien als neue Ersatzreligionen der Postmoderne zu begreifen – Corona ist eben nicht nur ein ob seiner Primitivität eigentlich lächerlicher Virus, der in der Lage ist, Menschenleben zu gefährden, sondern Corona ist selbst nur eine Erfindung der ‚Weltregierung‘: Corona dient hier vor allen Dingen als ein Narrativ, von dem ausgehend man einer Erzählung seinen Glauben schenken kann – plötzlich macht alles Sinn, plötzlich ist alles einfach. Einigend wirkt dabei das Wissen um die angebliche Weltwahrheit, die man nur noch finden muss, also wird solange gesucht, bis etwas gefunden wird. Für die Corona-Demos wie für andere eventisierten Glaubensformen des 20. und 21. Jahrhunderts gilt: der Weg ist das Ziel. Die Suche nach der alles umspannenden Weltwahrheit kann niemals beendet werden, weil dann der eigentlich sinnstiftende Prozess der Konstruktion von Narrativen beendet wäre. So also erzählt man sich unterschiedlichste Geschichten, die mal Jesus Christus, mal Ufos, mal Kindermörder beinhalten. Mit dem Erzählen dieser Geschichten ist schon das eigentliche Ziel erreicht.
Das Nebeneinander der unterschiedlichen Symbole erscheint vor diesem Hintergrund allzu verständlich: Das friedliche Nebeneinander von Jesuskreuz, Reichs- und Prideflagge, QAnon-Symbolen und Hippie-Memorabilia sind nicht nur ein Zeichen vom Ende des Symbolischen, vielmehr symbolisiert das Ende des Symbolischen das Ende der Institutionen. Die Symbole, die sich ihrer intrinsischen Logik nach vollends ausschließen, können deshalb koexistieren, da die dahinterstehenden Institutionen keine Bedeutung mehr haben. Kirchen, Parteien, Vereine, Vereinigungen und gar die Verfassung haben ausgedient. Viel wichtiger sind den Protestierenden umarmende Botschaften: „Keine Gewalt“, „Nur Liebe“, „Harmonie“. An dieser Stelle greifen nicht nur die popkulturelle Eventisierung des liebesakosmistischen Protestes, sondern auch die Unmöglichkeit einer konzisen Feindeskonstruktion, die hier mit der Unmöglichkeit einer konzisen Selbstkonstruktion einhergeht. Wie 1968 versammelt man sich unter dem Dachbegriff des ‚Establishment‘ beziehungsweise des ‚die da oben‘. Teilweise gibt man jenen Personen Gesichter, in dem man die vermeintlich Verantwortlichen symbolisch als plakatierte Sträflinge darstellt.
Demokratie tut weh
Sicherlich kann man sich über diese Geschmacklosigkeit empören. Jedoch muss man sich in nüchterner Erwachsenheit eingestehen: so funktioniert nun mal Protest. So auch ‚Fridays for Future‘ – auch hier wird das angeblich verantwortliche Establishment für ‚schuldig‘ empfunden. Die Überkomplexität des Problems, Corona ist augenscheinlich noch komplexer als die Klimakrise, zwingt zu einer unterkomplexen Konstruktion des ‚die da oben‘, gegen die man sich richten kann. Eine Protestbewegung legitimiert sich selbst über die Konstruktion eines gemeinsamen Feindes – man braucht Begriffe und Gesichter, gegen die man sich wenden kann, um seine Anklagen an einen Adressaten richten zu können.
Erst nachdem ein Adressat konstruiert ist, kann auch die Illusion hergestellt werden, dass sich der Adressat um ‚das Problem‘ kümmern kann. Da aufgrund der komplexen Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaften eine eindeutige und wiederum klar differenzierte ‚Schuldzuweisung‘ schlichtweg nicht möglich ist, wendet man sich im Falle von Corona an ‚die Politiker‘ oder aber gleich ‚die Wissenschaft‘. Merkel ist dann das Gesicht für ‚die Politiker‘, Drosten ist dann das Gesicht für ‚die Wissenschaft‘. Der Virus selbst ist ein denkbar schlechter Ansprechpartner, um seinen Unmut zu äußern. Im Falle von ‚Fridays for Future‘ richtet man sich gegen eine gesamte Generation und ebenfalls ‚die Politiker‘. Die Personifizierung allen Übels fällt dann in der Typologie des urbanen SUV-Fahrers zusammen. In beiden Fällen greifen identische Muster.
Nicht selten trifft man auf den Vorschlag, dass, um sich von den Rechten bei den Demos abzugrenzen, man eigene Protestgruppen gründen soll, die dann auch ganz konkrete Forderungen formulieren können. Bloß: so einfach ist es eben nicht. Man stelle sich vor, es gäbe dann die Gruppe der eindeutigen Nazis und Reichsbürger, die Gruppe der überlasteten Mütter, die Gruppe der freiheitstrunkenen Hippies, die Gruppe der Weltverschwörer, die Gruppe derjenigen, die einen vereinheitlichten Wissenschaftsdiskurs kritisieren, die Gruppe derjenigen, die einen vereinheitlichten Mediendiskurs kritisieren, die Gruppe derjenigen, die alternative Heilkonzepte befürworten, die Gruppe der mittlerweile Arbeitslosen, die Gruppe der mittellosen Künstler usw. Man versammelt sich unabhängig von den minutiös differenzierten Gründen für die Ablehnung der Corona-Politik unter dem kleinsten gemeinsamen Nenner und dieser ist eben jener der grundsätzlichen Protesthaltung: „Ich bin dagegen“.
So bitter diese Aussage für einige Leser sein mag: Die Corona-Proteste im Kern zu verteufeln, ist genauso widersinnig und antidemokratisch, wie die ‚Fridays for Future‘ Bewegung zu verteufeln. Sicherlich mag man letztere ‚sympathischer‘ finden, jedoch gilt es sich einzugestehen, dass auch bei scheinbar geklärter Faktenlage Protest legitim und zutiefst demokratisch ist. Demokratie tut weh, ist ungemütlich und auch nicht ungefährlich, das zeigen die Proteste sehr gut, jedoch sollte gründlich überlegt werden, ob aus der ‚Corona-Krise‘ auch eine ‚Krise der Demokratie‘ erwachsen soll, wenn die Möglichkeit der öffentlichen Verkündigung der eigenen Protesthaltung unterbunden wird, weil sie ‚der Politik des Staates‘ widerspricht.
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