Wir haben 13 Jahre auf diesen einen Tag hingearbeitet: Den letzten Schultag. Doch bringt dieser wirklich die ersehnte Freiheit? Geht das Leben wirklich dann erst richtig los? Aber vor allem: Hat uns die Schule gut auf „das Leben danach“ vorbereitet? Unser Autor berichtet von seinen Erfahrungen.
29. März 2012: Wie viele Jahre habe ich auf diesen Tag hin gefiebert. Nach gefühlten eintausend abgehakten Tagen auf meinem imaginären Kalender war es dann endlich so weit: Der letzte Schultag in meinem Leben. Nie wieder sich etwas von Lehrern diktieren lassen, sich um Noten und Bewertungen streiten und endlich ist Schluss mit dem Spagat zwischen dem ständigen inneren Disput: Gefalle ich den Lehrern oder meinen Mitschülern, meinen „Leidensgenossen“? Endlich nicht mehr früh aufstehen, keine holprigen Busfahrten mehr und kein Abwägen mehr, ob sich das Schwänzen lohnt. Aber vor allem eins: Endlich nicht mehr ständig abgefragt werden! Ich habe mir tatsächlich vorgestellt, dass die Abiturprüfung die letzte Prüfung meines Lebens ist. Das, was danach irgendwann kommt, habe ich auf die „lange Bank“ geschoben.
Dann wurde es April: Die Abiturprüfungen waren geschrieben. Euphorie machte sich in meinem Kopf breit. Das Leben schmeckte jetzt nach Freiheit, nach Selbstbestimmung. Während andere sich morgens zur Schule schleppten, befand ich mich noch im Land der Träume. „Das Leben, wie es sein soll!“ Der Verfallsprozess dieses Gedankens legte ein schleichendes, aber zügiges Tempo vor und nach nicht einmal zwei Monaten fühlte sich jeder Tag gleich langweilig wie der Tag zuvor an. Wo waren die Mitschüler, die einem jeden Tag irgendwie interessant und besonders gemacht haben? Wo waren die Klausurphasen, die zwar stressig, aber irgendwie auch sinnerfüllend waren? Und vor allem: Wo waren die Pausen, die eine herrliche Symbiose aus Schaulaufen und „sich selbst präsentieren“ bildeten? Auf einmal fehlte dieser, damals als Selbstverständlichkeit angesehene, Alltag ungemein. „Dafür geht’s ja am ersten August mit der Ausbildung los, da kommt wieder frischer Wind“, redete ich mir ermunternd zu.
Das Leben danach…
Wir schreiben nun Anfang Februar 2013: Freiheit, Unabhängigkeit, Zwanglosigkeit? Das sind bestimmt nicht die Begriffe, die im Moment in meinem Leben vorherrschen. Wie sieht der frische Wind aus? Bitteschön: Aufstehen um sechs Uhr (zur Schulzeit: sieben Uhr), Arbeitszeiten von acht bis neun Stunden am Tag (zur Schulzeit: Wie viele Freistunden in der Woche hatte ich nochmal?), ein Mix aus munterem Leistungsabfragen durch die Vorgesetzten und den Lehrbeauftragten (Leistungsdiskussion oder Feilschen um Bewertungen? Unmöglich!), vierundzwanzig Urlaubstage im Jahr (den Vergleich zur Schulzeit spare ich mir jetzt mal lieber). Die motivierenden Worte von Freunden, die ein Studium begonnen haben, sprachen auch für sich: „Seit Beginn des Studiums lebe ich eigentlich nur noch, um zu lernen“. Noch nie in meinem, zugegebenermaßen noch relativ kurzem, Leben habe ich mich so verschätzt, so verpokert wie bei meinen Vorstellungen von meinem neuen „Lebensabschnitt“ nach der Schule. So schmeckt also der „Ernst des Lebens“.
An die Schule denke ich aber nicht nur wehmütig zurück. Immer öfter habe ich mich in den letzten Monaten gefragt: „Wofür habe ich eigentlich 13 Jahre gepaukt? Wofür habe ich mich mit Lateinvokabeln herumgeschlagen?” Dieser ganze allgemeinbildende Kram sollte also dazu beitragen, dass ich auf das Leben vorbereitet werden würde? Dass ich durch das Ablegen meiner „Reifeprüfung“ also jetzt reif für’s Leben bin? Schon beim Vorstellungsgespräch konnte mir meine „Reifeprüfung“ nicht weiterhelfen: „Wieso sollten wir uns denn gerade für Sie entscheiden?” Weil ich weiß, dass Kaliumpermanganat im Wasser nur mäßig löslich ist! Also wenn das mal kein Argument ist! Weiter geht es mit der Konfliktbewältigung im Arbeitsalltag: „Wenn sie nicht sofort etwas unternehmen, dann werde ich als Kunde wohl zur Konkurrenz gehen müssen!“, tönte es in meinen Telefonhörer. Wie zitierte meine Lehrerin in Geschichte schon Adam Smith: „Im Erfolg der Wirtschaft spiegelt sich der Freiraum des Einzelnen wider.” Mein entsprechender Kommentar zum erzürnten Anrufer: „Also, Sie sind ein freier Mensch. Sie brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben, zur Konkurrenz zu wechseln ist ihr gutes Recht.“ Ob das geschickt war?
Man lernt für das Leben
Waren die 13 Schuljahre, also ein Großteil meines bisherigen Lebens, vergebens? Nein, denn ich bin in diesen Jahren vom Kind zum jungen Erwachsenen geworden. Ich habe im Fach Geschichte das Weltgeschehen vor meiner Zeit kennengelernt. Ich habe in Physik gelernt, aus was für einer kleinen Materie die Welt besteht. Ich habe in Deutsch gelernt, zu versuchen, in die Gedankenwelt großer Literaten einzutauchen und deren Ideen und Weltanschauungen zu durchdringen. Ich habe in Philosophie gelernt, über Dinge zu reflektieren und festgemeißelte Regeln und Normen auch einmal zu hinterfragen. Außerdem habe ich in Mathe gelernt, dass es Dinge auf dieser Welt gibt, die man nie verstehen wird. Auch das Taktieren, das Streiten mit den Lehrern, das „An-Sich-Arbeiten“ nach schlechten Noten, das Aneinandergeraten mit Mitschülern, aber natürlich auch das erste Verliebt-Sein in eine Mitschülerin, das erste Bier auf der Karnevalsparty, das erste morgendliche Autofahren zur Schule; all das hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin, hat mich reifen lassen. Bestimmt ist der Junge, der vor 13 Jahren mit großen Augen und schicker Hochwasserhose das erste Mal den Schulhof betrat, der ihm von der Größe vorkam wie die Fläche von ganz Amerika, nicht mehr der, der letztes Jahr im März den Schulhof verlassen hat.
Natürlich habe ich noch viel zu lernen, von der Konfliktfähigkeit im Berufsalltag, über die effiziente Arbeitseinteilung am Arbeitsplatz. Aber ich steige doch erst in das Leben ein. Da ist noch genug Zeit, um all die Dinge zu lernen. Außerdem: Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, was ihn nicht umbringt, macht ihn nur härter. Und was würde es bringen, wenn ich das alles jetzt schon könnte? Das Leben besteht aus Herausforderungen und ständigem Dazulernen. Wie sagte meine Lehrerin schon in der fünften Klasse: „Ihr lernt nicht für die Schule, sondern für das Leben“. So soll es wohl sein.
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