Der Reitsport hat in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich an seinem Image gearbeitet. Nach und nach mauserte er sich vom Sport der oberen Zehntausend zum beliebten Hobby der breiten Masse. Auch das Angebot hat sich mit der Zeit vervielfältigt: In keinem anderen Sport gibt es so viele verschiedene Disziplinen, Stile und Lehrmethoden. Reiten für jeden – und zwar so, wie es Pferd und Reiter am angenehmsten ist. So weit zumindest in der Theorie. In der Realität zeigt sich jedoch allzu oft, dass Reiten nicht nur der vielfältigste, sondern auch der kontroverseste Sport ist. Die Zusammenarbeit mit einem anderen Lebewesen, die diesen Sport so spannend macht, liefert Stoff für allerhand Diskussionen.
Die Fronten zwischen den einzelnen Sichtweisen sind meist verhärtet: Freizeitreiter schädigen den Pferderücken durch Herumgejuckel ohne Sattel, Dressurausbilder verlangen unmögliche Verrenkungen von den Tieren, Westernreiter wirken grob auf das Pferd ein? Vorurteile über Vorurteile. Fakt ist doch: Es gibt wohl kaum eine gute oder schlechte Reitweise, sehr wohl aber gute und schlechte Reiter. Harsche Behandlung und Schädigung des Pferdekörpers durch Überforderung oder falsche Herangehensweise findet man wohl in jeder Reitweise. Doch jede hat auch ihre Vorteile. Warum nicht voneinander lernen?
Die Vielfalt des Pferdesports
Diesem Motto hat sich die Equitana verschrieben. Die weltgrößte Pferdesportmesse in Essen wechselt sich jährlich mit der kleineren Schwester ab: Der Equitana Open Air in Neuss. Zu diesem Event kommen Aussteller und Besucher aus ganz Europa zusammen, um ein Wochenende lang die Vielfalt des Pferdesports zu feiern. Im Mittelpunkt steht die Freude am Partner Pferd. In den zahlreichen Vorführungen, Schauritten und Lehrstunden wird stets dieselbe Botschaft vermittelt: Das Pferd ist weit mehr als nur ein Sportgerät. Es achtsam zu behandeln und so mit ihm zu arbeiten, dass es lange gesund und zufrieden bleibt, muss immer das Hauptziel sein. Die Equitana bietet daher auch Raum, um den eigenen Standpunkt als Reiter zu überprüfen. So mancher kann bei der „Wunschpferd“-Aktion einmal in eine völlig fremde Reitweise hineinschnuppern. Beliebt sind auch die Reitstunden bei prominenten Trainern, die vorab verlost werden. Dieser öffentliche Unterricht ist auch für das Publikum ein Erlebnis, denn oft erfährt man selbst „am Boden“ vieles, was auf das eigene Tier zu Hause übertragbar ist.
Einer der Trainer, der in diesem Jahr Unterrichtsstunden auf der Equitana gegeben hat, ist der Dressurausbilder Horst Becker. An jedem der drei Messetage beschäftigte er sich mit einem Pferd-Reiter-Paar. „Die meisten Reiter haben das Problem, dass sie ihr Pferd viel zu sehr präsentieren wollen“, findet er. „Das erste Ziel in der Ausbildung sollte jedoch nicht der spektakuläre Gang, sondern Taktklarheit und Losgelassenheit sein.“ Zu diesem Zweck sollen sich seine Schüler viel mit der Pferdebewegung auseinandersetzen. „Ich könnte eine ganze Stunde damit verbringen, meine Schüler den Takt finden zu lassen“, grinst der Ausbilder, „aber oft merkt man auch schon nach einigen Minuten einen Unterschied. Schritt ist nicht gleich Schritt.“ Auch wenn diese Aussage viele Zuschauer zunächst irritiert, so ist tatsächlich bald eine Verbesserung zu beobachten. Die Bewegungen werden runder, weicher – man versteht, was Schritt mit Schreiten zu tun hat. „Achtsamkeit ist enorm wichtig für ein harmonisches Reiten“, betont Becker. Dennoch umfasse pferdegerechte Arbeit nicht nur Reitkunst, sondern auch passende Ausrüstung und ein Wissen um die Biomechanik des Tieres. „Wenn alle Faktoren berücksichtigt werden, ist der optimale Rahmen für eine lange Freundschaft zwischen Pferd und Reiter geschaffen.“
Unfälle kommen in allen Reitdisziplinen vor
Viele Reiter denken mittlerweile ähnlich. Das „Kompetenzzentrum Pferdegerecht“, das es auf jeder Equitana gibt, zieht stets eine Menge Besucher an. Hier haben Tierärzte, Hufschmiede, Sattler und Ausbilder das Wort, die sich für einen achtsamen Umgang mit dem Pferd einsetzen. Ihre Botschaft erreicht ein breites Fachpublikum von etwa 40.000 Besuchern pro Open Air – Veranstaltung. Mit diesem Schwerpunkt steht die Equitana auch für eine Gegenbewegung zu den Entwicklungen im Hochleistungssport, der mittlerweile regelmäßig Negativschlagzeilen macht: Erst am vergangenen Wochenende ist der 25-jährige Vielseitigkeitsreiter Benjamin Winter nach einem Sturz beim Turnier in Luhmühlen gestorben. Auch ein Pferd ist bei dieser Geländeprüfung umgekommen. Nach den Ereignissen meldeten sich viele Kritiker der Disziplin zu Wort.
Natürlich stimmt es, dass viele Unfälle auf das Konto der Vielseitigkeitsreiter gehen. Doch auch im Springparcours sterben Pferde. Auch bei Westernprüfungen kommt es vor, dass Tiere sich die Beine brechen. Warum also eine Disziplin verdammen und die Augen vor den Problemen der eigenen Sparte verschließen? Die Equitana macht es vor: Wir Reiter können viel voneinander lernen. Und Achtsamkeit gegenüber dem tierischen Partner hat keine Disziplin für sich gepachtet. Sie muss überall dort beginnen, wo Menschen mit Pferden arbeiten.
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