Peng! Nur wenige Meter nach dem Ziel klatscht der Sattel auf die Holzdielen des Velodroms. Dennoch behält Kristina Vogel elegant die Balance auf dem wackligen Bahnrad. Hat es zum Olympiasieg gereicht? Oder muss sie noch einmal zu einem entscheidenden dritten Sprint gegen die Britin Rebecca James antreten? Es reicht! Mit einem Vorsprung von Vier-Tausendstel-Sekunden gewinnt sie Gold. Es ist die Krönung ihrer Karriere. Eine Karriere, die auch ganz anders hätte verlaufen können.
Erfolge in der Jugend
Im Alter von zehn Jahren beginnt Kristina Vogel mit dem Radsport. Zunächst auf der Straße, bis sie mit 15 Jahren zum Bahnradsport wechselt. Ihr Talent bleibt nicht lange unentdeckt und sie wird Mitglied des Jugend-Nationalkaders. Bei den Junioren-Weltmeisterschaften 2007 macht sie erstmals auch international auf sich aufmerksam und wird Weltmeisterin im Sprint, Teamsprint und 500-Meter-Zeitfahren. Im Jahr darauf verteidigt sie ihren Titel im Sprint und über das 500-Meter-Zeitfahren, zudem holt sie sich noch Gold im Keirin, dem sogenannten Kampfsprint.
Der Unfall
Im Mai 2009 kollidiert sie bei einer Trainingsfahrt auf der Straße mit einem zivilen Polizeifahrzeug der Thüringer Polizei. Zwei Tage lang schwebt sie in Lebensgefahr, erst dann erwacht sie aus dem Koma. Beim Unfall verliert sie fast alle Zähne, bricht sich mehrere Handwurzelknochen und einen Brustwirbel. Zudem hat sie durch die zersplitterte Glasscheibe des Autos mehrere Schnittwunden im Gesicht. Monatelang verbringt sie im Krankenhaus, zahlreiche Folgeoperationen werden durchgeführt. Niemand glaubt zu diesem Zeitpunkt, dass Kristina Vogel je wieder auf dem Rad sitzen wird.
Comeback und erstes olympisches Gold
Bei den Bahnrad-Weltmeisterschaften 2010 in Dänemark gibt Vogel überraschend ihr Comeback. Der zuständige Sprint-Bundestrainer Detlef Uibel sagt, es wäre ein Wunder, dass sie überhaupt wieder auf dem Rad sitzen kann. Trotz Trainingsrückständen überzeugt Vogel durch einen starken fünften Platz im Sprint. Direkt nach den Titelkämpfen muss sie erneut operiert werden.
Im April 2012 gewinnt sie mit Miriam Welte im Teamsprint ihren ersten Weltmeistertitel bei den Erwachsenen. Dabei brechen die beiden im Finale gegen die Australierinnen Kaarle McCulloch und Anna Meares mit 32.549 Sekunden sogar den Weltrekord. Als Weltmeister und Weltrekordler reisen sie als Topfavorit zu den Olympischen Spielen in London.
Schon im Vorlauf bricht das chinesische Duo Gong Jinjie und Guo Shang den Weltrekord. Im Finale müssen sich Vogel und Welte den beiden Chinesinnen deutlich geschlagen geben. Doch eine der beiden Chinesinnen war kurzzeitig auf dem unteren blauen Streifen gefahren. Dieser Streifen wird im Bahnradsport „Côte d’Azur“ genannt und darf nicht befahren werden. Die beiden Chinesinnen werden disqualifiziert und Kristina Vogel gewinnt gemeinsam mit Miriam Welte ihre erste olympische Goldmedaille.
Die beste Sprinterin der Welt
In den folgenden Jahren entwickelt sich Vogel zur besten Sprinterin der Welt. Bei den jährlich stattfindenden Bahnradweltmeisterschaften holt sie sich sechs weitere Weltmeistertitel. Jeweils zwei im Sprint, Teamsprint und Keirin. Wirklich wahrgenommen werden ihre Erfolge in Deutschland aber kaum, denn als Bahnradsportlerin bekommt Vogel nur alle vier Jahre zu Olympia mediale Aufmerksamkeit. Im Olympic Training Center in Colorado Springs bereitet sie sich im Juni auf die olympischen Spiele vor. Keine Schränke auf dem Zimmer, keine Toilette auf dem Zimmer und lediglich Gemeinschaftsduschen – ein Luxusleben als Profisportler sieht anders aus.
Auf Frust folgt Gold
Drei Medaillen – so hieß das hochgesteckte Ziel von Kristina Vogel vor den Olympischen Spielen.
Nach Bronze im Teamsprint mit Miriam Welte, folgt ein enttäuschender 6. Rang im Keirin. Noch im März war Vogel in dieser Disziplin zum zweiten Mal Weltmeisterin geworden. Laut eigener Aussage halfen ihr Mandalas, die sie von ihrer Teamsprint-Kollegin Miriam Welte bekommen hatte, um aus dem mentalen Tief wieder herauszukommen.
Ohne einen einzigen Sprint zu verlieren gelangt Kristina Vogel ins Finale. Diese Leistung ist insofern beeindruckend, da es beim Sprint ein deutlicher Vorteil ist, von der hinteren Position zu starten und den Windschatten der Gegnerin zu nutzen. Ein Sprintduell wird im Modus „Best-of-Three“ ausgetragen, dabei wechselt das Recht, wer zu Beginn im Windschatten fahren darf, nach jedem Rennen. Jedes Rennen geht über drei Runden mit einer Länge von 250 Metern, also insgesamt 750 Metern.
Im Finale kommt es zum Aufeinandertreffen mit der Britin Rebecca James. Vogel hat Glück bei der Auslosung und darf im ersten Rennen von der hinteren Position starten. Schon Ende der zweiten Runde geht Vogel aus dem Windschatten heraus und fährt einen ungewöhnlich langen Sprint. Bis zur letzten Kurve ist die Britin gleich auf, dann schafft es Vogel einen kleinen Vorsprung herauszufahren und gewinnt den ersten Lauf.
Im zweiten Lauf hat Vogel den Nachteil, die Führung übernehmen zu müssen. Die Britin bleibt lange hinter Vogel und geht erst in der Schlusskurve aus dem Windschatten. Die Britin scheint an Vogel vorbeizukommen, doch Vogel rettet den minimalen Vorsprung mit einem Tigersprung. Dabei schiebt sie das Gesäß nach hinten und streckt die Arme durch, um noch ein paar zusätzliche Zentimeter zu gewinnen. Für den Sattel war dies zu viel, er fällt kurz hinter der Ziellinie ab. Für Kristina Vogel hat es gereicht, sie rettet vier Tausendstel bis ins Ziel und gewinnt Gold.
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