In Südostasien leben viele ethnische Minderheiten, die in Europa weitgehend unbekannt sind. Eine von ihnen sind die La^Hu, welche vor allem im sogenannten Goldenen Dreieck Zuhause sind. Unser Autor hat einige Zeit bei ihnen gelebt und sie in diesem Neujahr wieder besucht. Eine Reportage.
Meine Augen sind geschlossen. Das Herz schlägt schnell von den körperlichen Anstrengungen und mein Atem geht schwer. Für den Moment halte ich inne und achte auf die Sinneseindrücke, die mich umgeben. Lautes Schellen klingt in meinen Ohren. Hell, rhythmisch und irgendwie blechern. Gleichzeitig die Klänge eines kleinen Gongs, dessen Töne mit jeder Sekunde lauter werden. Auf einer anderen Sequenz nehme ich den dumpfen Laut einer Trommel wahr. Außerdem mehrfaches Pfeifen, auf skurrile Art quäkend. Zusammen bilden diese Klänge ein wildes akustisches Intermezzo, an dem ich aus irgendeinem Grund Gefallen finde. Ich hole tief Luft. Rieche den lehmigen Staub, der aufgewirbelt wird sowie einen für die Region typischen, nicht beschreibbaren Duft. Die Eindrücke dieses Moments brechen über mich herein wie ein Tsunami und für einen Moment habe ich das Gefühl, in dieser Flut verloren zu gehen.
Fremde Welt
Langsam öffne ich meine Augen und sehe Farben. Rot, Schwarz, Pink und Grün bewegen sich in einem Reigen, als Stickmuster auf den Trachten dutzender Menschen, die zu dieser seltsamen Musik tanzen. Das Sonnenlicht lässt einen aufwändigen Silberschmuck auf der Kleidung und den Kopfbedeckungen der Trägerinnen glitzern. Frauen und Mädchen bewegen sich auf schlichte aber elegante Weise, ihre dabei Hände anmutig nach rechts und links schwingend. Manche halten Trommeln, Schellen und Gongs in ihren Händen, deren Klänge sich in meinem Kopf eingebrannt haben. Zusammen bilden die Tänzerinnen einen großen Kreis um junge und alte Männer, welche auf provokante Art mit den Füßen stampfen und gewagte Balanceakte eingehen. Einige spielen seltsame Flöten mit mehreren Rohren, die eindeutig schuld an diesem quäkenden Pfeifen sind. So wie sich beide Tanzgruppen zueinander bewegen – mal gegensätzlich, mal ineinander übergehend – wirkt es wie ein wortloser Dialog zwischen Geschlechtern und Generationen. Mittendrin bin dann noch ich: Ein hochgeschossener blonder Ausländer in der traditionellen Männertracht und dem Versuch, mit den komplizierten Tänzen der La^Hu Schritt zu halten.
Exodus der La^Hu
Rund hundert Menschen sind zu diesem dreitägigen Tanzfest nahe der nordthailändischen Stadt Chiang Rai im Neujahr zusammengekommen. Die Teilnehmer gehören zum Stamm der La^Hu, einer Volksgruppe (hill tribe genannt), die über Südostasien und Südchina verstreut lebt. Anthropologen vermuten ihren Ursprung in der Mongolei oder Tibet, von wo sie in mehreren Wellen ausgewandert sind. Die meisten kamen in den letzten siebzig Jahren aus Burma und China hierher, um Krieg, Hunger und Verfolgung zu entgehen. In den Bergen und Tälern des Goldenen Dreiecks, dem Dreiländereck von Thailand, Burma und Laos, werden die La^Hu weitgehend geduldet; obwohl sie sich kurz nach ihrer Einwanderung der Forderung Bangkoks verweigerten, für ihr Bleiberecht die kommunistische Guerilla in Thailand zu bekämpfen. Was nach interner Meinung ein Grund dafür ist, dass man den La^Hu die thailändische Staatsangehörigkeit bis heute erschwert oder sogar verweigert. Es gibt verschiedene Projekte, in denen man heutzutage diesen Menschen helfen kann, auch wenn die Effektivität oft zu wünschen übrig lässt. Vor zwei Jahren bewarb ich mich aus purer Neugier für eine Stelle in einem Kinderheim und ehe ich mich versah, wohnte ich ein halbes Jahr lang mit diesen Menschen zusammen, um Englischunterricht zu geben und Kinder zu betreuen.
Die drei Stämme
Die Musik klingt langsam aus und die Tänzer kommen zur Ruhe. Durch ein Mikrofon spricht ein älterer Mann auf La^Hu an die Gemeinde und plötzlich strebt alles hinter ein nahegelegenes großes Steinhaus. Jemand zieht am Ärmel meiner Jacke. Ich schaue nach unten und direkt in das vertraute Gesicht eines kleinen Mädchens. Sie ist die Tochter meines Gastgebers und Freundes, den ich über meinen Freiwilligendienst kennengelernt habe. Auch sie gehört zu den La^Hu, genauer gesagt zu den „Oss´iloh“, den sogenannten Gelben La^Hu. Insgesamt gibt es drei solcher Stämme, welche sich selbst die Farbbezeichnungen Gelb, Rot und Schwarz geben. „Gkin khao log´kai!“, weist mich das Mädchen in einem Kauderwelsch aus Thailändisch und ihrer Stammessprache an mitzukommen; ich lasse mich mitziehen. Der neue Versammlungsort liegt im Schatten von Bäumen, ein kleines Haus aus Bambus und geflochtenen Palmenblättern bildet den Mittelpunkt. Auf einer Bambusvorrichtung falten mehrere Frauen unterschiedlichen Alters frische Palmenblätter, um darin mundgerechte Portionen aus Reis, Fleisch, Gemüse und Fischpasten zu wickeln. In einem Topf köchelt eine klare Suppe aus Hühnerfüßen und geschnittenen Kürbiswürfeln. Die einladenden Düfte schweben mir schon von Weitem entgegen. Mit einem Palmenblatt in der einen Hand und einer Schale in der anderen wende ich mich den Essenden zu. Offensichtlich gibt es hierbei klare Richtlinien: Männer und Frauen, sofern nicht verheiratet, sitzen getrennt. Mit dieser Norm brechen einige meiner ehemaligen Schülerinnen, indem sie mich zu sich auf eine am Boden liegende Reismatte einladen. Ich setze mich hin und warte, denn zunächst wird gebetet, und zwar christlich.
Ihr Weg zu Gott
Die La^Hu kamen früh im britisch besetzten Burma mit dem Christentum in Berührung. Ab den 1960ern stieg die Anzahl ihrer Konvertiten mit dem Auftauchen lutherischer Missionare aus den USA und Europa, welche die Schulbildung und medizinische Versorgung für die oft in Elend lebenden Bergstämme organisierten. Heute geht man von rund 95 Prozent Christen aus. Reibungen mit anderen Religionen wie Muslimen und Buddhisten sind im thailändischen Bezirk Chiang Rai selten. Anders an der burmesischen Grenze, wo die hill tribes systematischen Übergriffen durch Shan-Buddhisten ausgesetzt sind. Die alten Bräuche der La^Hu gingen im Zuge der Christianisierung zum Teil verloren, oft aber auch in ihrer neuen Religion auf. So auch das traditionelle Tanzen zu besonderen Anlässen wie dem Neujahr.
Das Essen war gut und reichhaltig. Jetzt plaudern die Familien oder halten Mittagsschläfchen. Eine Frau will mir die leere Schale aus den Händen nehmen. „Obudja“ bedanke ich mich in der Stammessprache, sie grinst. „I´ka mwe alah?“ will sie wissen, ob ich noch Durst habe. Ich verneine. Ob mir denn das Fleisch geschmeckt habe? „Meh djah!“ bejahe ich sofort. Mir fällt eine Erzählung ein, nach der das Wort „La^Hu“ sogar Jäger bedeutet und frage die Frau nach dem Fleisch in der Suppe. Die Antwort „´ua“, Hausschwein, desillusioniert meine etwas romantische Vorstellung von einer wilden Jagd in den Bergen. Was vielleicht auch besser ist, denn die thailändischen Behörden verhängen für Wilderei hohe Strafen. Meine ehemaligen Schülerinnen stehen der Reihe nach auf und winken mir mitzukommen. Wir bewegen uns träge zu den Gebäuden des Kinderheims, in dem ich früher meinen Freiwilligendienst verrichtet habe und in dem ich für meinen Besuch einquartiert bin. Müde lege ich mich auf meine Matratze, die Gedanken noch kreisend. Verglichen mit meinem ersten Auftauchen geht es den Bewohnern dieses Dorfes deutlich besser. Es gab heute viel mehr Fleisch zu essen als früher und das Kinderheim hat kleine technische Erneuerungen bekommen. Zufrieden sinke ich in einen tiefen Schlaf.
Spiegel der Gesellschaft
Es ist stockdunkel, als ich die Augen öffne. Regentropfen trommeln monoton auf das Dach und für den Moment scheinen keine anderen Geräusche zu existieren. Ein Blick auf die Uhr verrät, dass es schon sehr spät am Abend ist. Geräusche dringen in mein Bewusstsein. Helles Schellen, das intensive Gongen, tiefe Trommelschläge und dieses quäkende Pfeifen. Ungläubig schlüpfe in meine Schuhe und gehe vor die Haustür. Kalte Tropfen prasseln auf meinen Kopf und perlen am Gesicht herab. Der Platz, auf dem heute Nachmittag getanzt wurde, liegt nur zwanzig Meter entfernt. Im hellen Gegenlicht einiger Lampen sehe ich die tanzenden Schemen, die vom immer dichter werdenden Regen offenbar unbeeindruckt sind; Frauen, wie sich im Takt wiegen, die Männer wie in Trance springend und dazwischen die jüngeren Generationen, wie sie etwas unbeholfen versuchen ihre Eltern nachzuahmen. Versonnen schaue ich auf dieses surreale Bild, die Musik und das Prasseln vom Regen im Ohr. Ein angenehmer Schauer läuft mir über den Rücken. Jemand erzählte mir einmal, Tanzen sei wie ein Spiegel der Gesellschaft. Ich glaube, dass da etwas Wahres dran ist. Denn leicht haben es die La^Hu selten. Vielleicht sind sie gerade deswegen ein Volk, das sich nicht unterkriegen lässt.
Felipe Sauvageon
Man bemerkt gerührt, dass Du dort Dein Herz verloren hast.
Tchoum, tiro Tata